Einführung zu einem Konzert am 20. Juni 2000 im Konzertsaal des ehem. Franziskanerklosters in Ehingen, erschienen in der Schwäbischen
Zeitung Ehingen am 14. Juni 2000.
Seit 1867 war Linder für 45 Jahre Klavierlehrer am Stuttgarter Konservatorium. Sein Name als Komponist von Oratorien, Opern und Chören war bis nach England und Amerika hinüber
geschätzt. Als Klavierkomponist war Linder hauptsächlich als Verfasser von Solokadenzen für sämtliche Klavierkonzerte W. A. Mozarts bekannt.
Seine Spur in der Musikgeschichte verlor sich schnell und gründlich nach dem Ersten Weltkrieg. Eine letzte ehrenvolle Erwähnung fand Linder in dem „Wegweiser durch die
Klavierliteratur", Verlag Hug, 10. Auflage 1925, von Adolf Ruthardt. Hier wird aber nur noch auf die Kadenzen „des Stuttgarter Professors" Bezug genommen, „die sich bestens zu Studienzwecken
eignen".
Viele Namen in der Musikgeschichte sind glanzlosem Vergessen anheim gefallen. Linder sicher zu Unrecht.
Fantaisie serieuse cis-moll
Ohne Opuszahl und Jahr, jedoch mit allen Zügen eines Spätwerkes, voll herber Männlichkeit und Tragik, aber auch Hoffnung; am Ende die Apotheose in Cis-Dur. Die Verwendung
bestimmter Harmonien gehört ganz individuell dem Komponisten und kommt so in der Klavierliteratur sonst nicht vor (Gestaltung von Septimakkorden, synchrone enharmonische Verwechslung, etc.). Erstaunlich auch
der weit entwickelte Klangsinn, der am Ende des Stückes zu einem Moment führt, den der Russe Sergej Rachmaninoff fast wörtlich für den Beginn seines zweiten Klavierkonzertes verwendet hat. Von den
Klavierwerken, welche die Landesbibliothek Stuttgart in Manuskripten und Drucken aufbewahrt, gehört es zum Gehaltvollsten aus Linders Feder. Das Manuskript ist übrigens eine Abschrift offensichtlich nicht von
Gottfried Linders Hand. Sie enthält eine Vielzahl orthographischer Fehler und macht einen flüchtigen Eindruck. Das Werk wurde von Wolfgang Weller herausgegeben und von dem Öpfinger Verleger Oliver Woog in der
Edition Canavas veröffentlicht. Die Noten sind unter der Bestellnummer CA 011946 im Handel erhältlich.
Waldidyll. Tonbild für Pianoforte op.15
Beendet am 4. August1877 und einer Miss Adele Hastings gewidmet. Gottfried Linder hat sich anscheinend immer überlegt, für wen er schreibt, vielleicht sogar (vor allem die
gedruckten Kompositionen) erst auf Bitten des jeweiligen Widmungsträgers geschrieben. Das Waldidyll ist ein rechtes Damenstück, nicht schwer zu spielen, verlangt aber klangliche Delikatesse, cantables
Spiel, sanften Ausdruck. Dennoch ist es trotz seines Salontitels kein Salonstück. Der Komponist Linder tritt immer wieder durch diese oder jene originelle Klangwirkung und solide handwerkliche Arbeit hervor.
Man merkt: das Allzugefällige, gar Triviale war seine Sache nicht. Linder hat für einige Klavierdamen komponiert, u.a. für die Liszt-Schülerin Johanna Klinckerfuß, die mit der damals (1881) schon
legendären Clara Schumann in Stuttgart an zwei Flügeln konzertiert hat.
Andante serioso und Concert-Polonaise op. 13
Das pianistische Hauptwerk Linders, dem Liszt-Schüler und Hofpianisten Prof. Dr. Dionys Pruckner gewidmet. Seinerzeit ein bekannter Mann und Kollege Linders (der zuvor dessen
Schüler war) am Stuttgarter Konservatorium. Linder zieht hier alle virtuosen Register, der Klavierstil übernimmt Elemente der Klaviertechnik vor allem von Liszt, aber auch Chopin. Diese Elemente werden jedoch
dem Personalstil des Komponisten völlig untergeordnet - auch dieses Werk ist “ein echter Linder”. Das vorausgehende Andante ist eine besonders wertvolle Komposition, in der mehr
Gedankeninhalt und kompositorischer Aufwand steckt als z. B. in dem entsprechenden Andante spianato von Chopin. Gerade deshalb hat aber Linders Andante nicht jene “sofortige”, unmittelbare Wirkung
auf das Publikum. Linders Musik, vor allem die langsamen Sätze, erschließen sich oft erst nach mehrmaligem Zuhören und sind sehr sorgfältig komponiert und mit kontrapunktischen Künsten ausgestattet. Seine
thematischen Einfälle sind nicht unbedingt von der genialen Unmittelbarkeit eines Liszt oder Chopin. Welchen Rang Linder jedoch als Komponist einnimmt, bemißt sich allein schon aus der Tatsache, daß man ihn
ganz selbstverständlich mit den Größten vergleicht. Die Polonaise ist charakteristisch gelungen und mit allem virtuosen Feuer der Liszt-Ära ausgestattet. Auch hier Momente der Besinnung voller Polyphonie,
die den Sturm wieder dämpfen - insgesamt ein Werk, das Hofpianist Pruckner sicher nicht im Vorbeigehen erledigen konnte und an Schwierigkeit Liszts E-Dur-Polonaise gleichkommt und an Komplexität übersteigt. Der feine Humor Linders wird aus einem kurzen, für die Zuhörer absolut unauffälligen Zitat aus Franz Liszts Konzertetüde „Gnomenreigen" deutlich, just jener Etüde, welche dieser seinem Schüler Pruckner einst gewidmet hatte. Die
Steigerungen einschließlich der ausladenden Stretta am Schluß sind klug angelegt und verfehlen nicht ihre Wirkung, die Übergänge zwischen den einzelnen Abschnitten zeugen von überlegener Gestaltungskraft.
Zwei Dinge müssen nun unternommen werden, um dem Ehinger Komponisten Gottfried Linder die gebührende Beachtung und
Bekanntheit zu verschaffen (und zwar in erster Linie aus künstlerischem Ermessen, dann aber auch aus angemessenem Lokalpatriotismus): Ein Verlag muß gefunden werden, und die wichtigsten Werke sollten auf
Tonträger eingespielt werden. Für dieses wichtige Projekt ist die Ehinger Kulturpolitik gefordert.