Studien über die Etüden von Chopin Nr. 1 über op. 10 Nr. 1 Verlag Robert Lienau, Berlin o. J. und Carl Fischer, New York 2002.
Vorbemerkung von Leopold Godowsky: “1.) Chopin’s Metronomisierung (4tel = 176) ist beträchtlich zu schnell für den mächtigen und
triumphierenden Charakter dieser Komposition. 2.)Th. Kullak nimmt 4tel = 152 an. Vielleicht ist 4tel = 160 das geeignete Tempo. 3.) Die Bearbeitung muß langsamer gespielt werden als das Original, weil sie
komplizierter (polyphonischer) gestaltet ist. ... 4.) Durch das Springen der rechten Hand vom Akkord zum entfernten Anfang des Arpeggio darf der gleichmäßige Fluß des Rhythmus nicht unterbrochen werden.”
(Nummerierung der Sätze durch W.W.)
Bronislaw v. Pozniak (1887 - 1953) war ein bedeutender Klavierpädagoge in Breslau und Leipzig und gab 1948 bei C.F. Peters die Werke von Frédéric Chopin neu heraus, indem bei
diesem Verlag seine Ausgabe die alte von Hermann Scholz ersetzte. (Es ist hier nicht über den generellen Wert dieser in manchem Betracht anfechtbaren Ausgabe zu diskutieren.) Er
schreibt zu den Metronomzahlen der Etüden in einer allgemeinen Fußnote: “Die Metronomzahlen entsprechen der großen polnischen Chopin-Tradition.” Sein Vorschlag für diese Etüde ist “4tel ca.
104”, während die Scholz-Ausgabe oder moderne Urtext-Ausgaben 4tel = 176 notieren. Hört man sich jedoch ‘bedeutende’ Aufnahmen dieser Etüde aus den letzten hundert Jahre an (z.B. des Liszt- und
Mikuli-Schülers Moritz Rosenthal oder Maurizio Pollinis), kommt man zu dem Schluß, eine solche Tradition sei gänzlich unbekannt. Fehlerfrei spielen sie alle nicht (was ja gewiß kein allzu gewichtiger Maßstab für die
musikalische Qualität der Ausführung sein soll), und ist hier bei knapp 12 Tönen je Sekunde auch nicht möglich - entgegen aller Bemühungen und Gegenbehauptungen seitens der akademischen Zitadelle. Nun steht aber
die Zahl 104 schon in verdächtiger Nähe des “halbierten” Tempos von getickten 8tel = 176 bzw. 4tel = 88. Hatte Pozniak tatsächlich noch die Ahnung von einer Tradition, die von der Tempo-Giusto-Ausführung
der Chopin-Etüden wußte? In seinem Buch “Chopin” (Mitteldeutscher Verlag 1949) zumindest bezieht er sich öfters auf diese Tradition.
Godowsky weist zu Recht auf den “mächtigen und triumphierenden Charakter” dieser Etüde hin, obwohl sie von der Diktion her eher neutral gehalten ist und zum unmittelbaren
Vorbild das melodielose, wenngleich meloshaltige C-Dur-Praeludium aus J.S. Bachs Wohltemperiertem Klavier Teil I hat. Godowsky folgert ebenso zu Recht, 4tel = 176 sei “beträchtlich zu schnell” und
schlägt - etwas unsicher - 4tel = 160 vor. Verwendet man diese Zahl, klingt die Etüde aber keineswegs mächtiger und triumphierender, wie denn auch der Unterschied auf dem Metronom nur zwei Striche beträgt.
Versucht man hingegen Pozniaks Vorschlag, kommt man Godowskys Vorstellung völlig nahe.
Godowsky glaubte einerseits an die wörtliche Ausführung der Metronomzahl. Andererseits war er Musiker genug, um zu bemerken, daß hier etwas nicht stimmt. Zugleich glaubte er an die
Autorität des Komponisten und wollte sich mit seinem Vorschlag nicht zu weit von der angeblich originalen Metronombezeichnung entfernen. Die Schizophrenie, die sich in den Sätzen 1.) und 2.) ausdrückt, ist typisch
für die Diskrepanz zwischen musikalischem Erkennen und Metronomzahl-Aberglauben. Sie ist typisch für die Musikausübung im 20. Jahrhundert.
Im 3. Satz wird die Schizophrenie schier handgreiflich, weil Godowsky für seine Bearbeitung 4tel = 144 - 176 vorschlägt, Zahlen, welche die Sätze 1.) und 3.) markant widerlegen.
Nimmt man Satz 4.) wörtlich, ist die Unausführbarkeit von Satz 3.) offensichtlich. Die rechte Hand muß drei Oktaven (entsprechend einem halben Meter) innerhalb eines Sechzehntels
überspringen. Bei einer Metronomzahl von 176 ist das ca. 1/12 Sekunde oder eine Bewegungsgeschwindigkeit des rechten Armes von ca. 21 km/h. Zwar hat der Nervus medianus („Mittelarmnerv“) für sich
betrachtet eine Leitgeschwindigkeit von 39 m/s entsprechend 140 km/h. Doch geht innerhalb des komplexen Systemes aus Gehirn (das den Befehl zur Bewegung gibt) - Nervenlänge/ Leitgeschwindigkeit - koordinative
Muskelkontraktion sehr viel Rasanz verloren. Vom Höreindruck ganz zu schweigen...
Bei seinen Metronomzahlen für seine eigene erste Chopin-Studie ist Godowsky die mechanische Unausführbarkeit (und musikalische Unausstehlichkeit) offenbar nicht aufgefallen! Ich
selbst nehme als Grundtempo dieser Godowsky-Studie im Konzert je nach Umständen 4tel ca. 88-104, dann klingt sie schön und musikalisch verfolgbar und läßt agogischen Raum nach oben und unten offen. Das obere
Limit des Menschenmöglichen nach der von Godowsky in Satz 4.) aufgestellten Forderung bewegt sich wohl zwischen 120 und 132 je 4tel.
Im Lichte dieser Betrachtung sind auch die Metronomzahlen zu den anderen Chopin-Studien Leopold Godowskys kritisch zu hinterfragen.
Eine spannende Frage hinsichtlich der Interpretation von Transkriptionen: soll man die Tempovorstellungen des Transkripteurs oder des Komponisten des Originales verwirklichen? Nun, interpretiert man die Transkriptionen, mithin auch die Interpretationen eines Godowsky oder auch eines Busoni oder Liszt mit ihren klanglichen, tempomäßigen und anderen Vorstellungen, sollte man sich
um genau diese Vorstellungen als Interpret bemühen, selbst wenn das Original der Transkription diametral entgegengesetzte Eigentümlichkeiten aufweisen sollte. Dies ist vom musikhistorischen Standpunkt aus betrachtet
eine logische Konsequenz.