"Iberia ist das Wunder des Klaviers und hat einen Platz - vielleicht den höchsten - unter den wichtigen Sternen des Königs der Instrumente schlechthin." (Olivier Messiaen)
Vorwort I (1983 - 2002)
Die vorliegende Arbeit entstand nicht zuletzt aufgrund des Drängens von Freunden und Kollegen, welche mit mir das Fehlen einer grundlegenden Darstellung derIberia-Suite von Isaac
Albéniz bislang vermißt hatten. Denn weder im deutschsprachigen, noch im spanischen Kulturkreis ist uns eine derartige Arbeit bekannt geworden.
Die Notwendigkeit einer solchen Arbeit ergab sich aus der praktischen Erfahrung, daß das Werk in seiner Gesamtheit in Deutschland fast völlig unbekannt ist. Sowohl beim Publikum als
auch bei den Pianisten. Bedauerlicher aber noch sind die unzureichenden Ausführungen und Artikel über Albéniz, wie sie in den deutschen Klaviermusikführern zu lesen sind. Und nimmt es doch jemand auf
sich, den einen oder anderen Satz aus der Suite vorzutragen, hört man in aller Regel ein arg verzerrtes Iberien, selten passend garniert mit den Flamencismen, welche man allenthalben durch kitschige Fernseh- und
Radiosendungen unfreiwillig in das Unterbewußtsein aufgenommen hat. Das Publikum, auch wenn es sonst kundig sein sollte, reagiert mit Unverständnis, weil die Musik Albéniz’ eben doch wesentlich mehr
und originelleres zu sagen hat als jeder triviale Abklatsch und somit die falschen Erwartungen des Publikums nicht erfüllt.
Mit der folgenden Darstellung soll ein Mittel an die Hand gegeben werden, das helfen soll, derartige auf Unwissenheit beruhende Unglücksfälle zu verhindern. Es sei jedoch darauf
hingewiesen, daß kein Weg zur Überwindung der selbst unter Eingeweihten ehrfurchtsvollen Schauder erregenden technischen Schwierigkeiten aufgezeigt werden soll. Dies muss den Berufenen selbst überlassen bleiben.
Vorwort II (2009)
In den letzten zwanzig Jahren ist die Iberia-Suite vermehrt in das Bewußsein der Pianisten gerückt, und wir können erfreut eine Zunahme von künstlerisch hochwertigen Aufführungen zumindest
einzelner Stücke feststellen. Wer auf http://www.youtube.com/ enstprechende Stichworte eingibt, kann sich über den aktuellen Stand der Entwicklung wenigstens ein Teilbild machen. Hier gibt es auch historische Aufnahmen zu hören, die seltsamerweise oft sowohl in technischer als auch musikalischer Hinsicht nicht den heutigen Stand der Entwicklung erreichen. Ein so herrliches Stück wie “TRIANA” wurde vor siebzig, achtzig Jahren offensichtlich als reines Virtuosenstück missbraucht und ohne Rücksicht auf Verluste “heruntergehauen”. Heutzutage nimmt man solche Stücke zum Glück wieder ernster - und ohne dass das Spielvergnügen dabei zu kurz kommt.
Editionen
Die derzeit erhältlichen Ausgaben beschränken sich zum einen auf die Editions Salabert, druckgleich mit den Texten der Union Musical Española (UME), Belwin Mills
und der nur noch antiquarisch zur Verfügung stehenden Erstausgabe der Editions Mutuelle
(EM) *, Druckplatten-Nummer 3083 aus den Jahren 1906 - 1908. Neuerdings (1987) brachte Edition Dover eine Reprint-Ausgabe von EM
in einem Band. Alle hier genannten Ausgaben sind Reprints der Druckplatten von EM.
* Der Download ermöglicht das direkte Nachlesen der Musikbeispiele.
Zum anderen gibt es eine Ausgabe von Isidore Philipp (1863-1958), erschienen bei International Music Company (IMC). Sie hat noch mehr Druckfehler als die vorgenannten Editionen,
weil sie zu den eigenen Irrtümern noch die der zeitlich früheren oben genannten Editionen kritiklos übernimmt. Außerdem fehlen hier viele der originalen (und originellen) wortreichen Vortragsbezeichnungen,
die in den früheren Ausgaben enthalten sind. Das einzig brauchbare an dieserIMC-Ausgabe ist das Vorwort von Jean Bowen mit einer kurzen Biographie des Komponisten und einigen wenigen Hinweisen zu
den einzelnen Stücken. Derselbe Verlag hat in Erkenntnis der Mängel im Jahre 1982 eine Nachfolge-Edition aufgelegt, von der mir Heft 2 (Stücke 4-6) zugänglich war. Darin wurde das Vorwort von Jean
Bowen unverändert übernommen, wohingegen die Herausgeberin Marthe Morhange-Motchane (1897-1996) den Text zwar deutlich verbessert hat, der aber gegenüber zusätzlichen Druckfehlern nicht immun ist; außerdem
werden hier ebenfalls originale Vortragsbezeichnungen unterschlagen.
Im November 1998 schließlich erschien bei Editorial de Música Española Contemporánea (EMEC) und Schott
die erste (von mir bereits in der Fassung von 1983 dieser Abhandlung angemahnte) Urtext-Ausgabe, außerdem bei Schott eine vierfarbige Faksimile-Edition.
Seit 2002 ist im Henle-Verlag eine empfehlenswerte sorgfältige Edition (Norbert Gertsch) erschienen, die inzwischen vollständig vorliegt. Sie vermeidet glücklicherweise die in einer Urtextausgabe
grundsätzlich fehl am Platze seienden “Herausgeber-Fingersätze” und liefert einen maßvoll umfangreichen musik-wissenschaftlichen Apparat, der die Entscheidungen des Editors nachvollziehbar werden
lässt.
Dank
Dank schulde ich an dieser Stelle vor allem meiner verehrten Lehrerin Prof. Rosa Sabater
(1929-1983). Sie hat mir zur Iberia-Suite viel authentisches Wissen aus der Tradition der katalanischen Schule, die mit Namen wie Enrique Granados, Frank Marshall und Joaquin Maláts verbunden ist, mitgeteilt. Diese mündlichen Überlieferungen sind ebenfalls in diese Abhandlung eingeflossen. Dank aber auch den Freunden und Kollegen, die es sich zur Ehre anrechneten, im Unterricht und in Konzerten ein Stück aus der Iberia-Suite spielen zu dürfen! Auch ihnen habe ich möglichst oft zugehört und, ob sie nun den „richtigen” Stil immer getroffen haben oder nicht, vieles dabei gelernt.
EINLEITUNG
„Cantes y Bailes” - Die Gattungen der wichtigsten Lieder und Tänze der Flamenco-Gruppe.
Die Ursprünge des andalusisch-zigeunerischen Flamenco liegen im Dunkel, wenngleich es gewisse Theorien und Hypothesen gibt, auf die ich bei der Darstellung von „JEREZ” eingehen werde. Zu viele unterschiedliche Faktoren, welche an seiner Entstehung beteiligt waren, etwa historische, geographische, musikalische, ethnische etc., führten bezüglich der Hintergründe zu einer gewissen Verwirrung. Deshalb begnügen sich die folgenden Ausführungen mit dem Systematischen und Gesicherten, soweit seine Kenntnis zum Verständnis der Iberia-Suite notwendig ist. Bei der Besprechung der einzelnen Stücke werde ich dann auf die hier diskutierten Termini zurückgreifen.
Zunächst kann man zwei große Gruppen des Flamenco-Gesanges unterscheiden:
I. Cantes flamencos primitivos
(Ursprüngliche Flamenco-Gesänge)
II. Cantes flamencos derivados
(Abgeleitete Flamenco-Gesänge)
Mit Sicherheit stimmen erstere mit den (andalusischen) Zigeunerliedern überein, während letztere nicht immer direkt von diesen herrühren und sogar traditionelle andalusische Formen
beinhalten können, welche in größerem oder geringerem Maße vom Flamenco absorbiert worden sind
Von den Cantes primitivos gibt es als deren künstlerisch anspruchsvollste Formen:
a) Tonás b) Seguiriyas c) Soleares
Jede davon bildet eine besondere Gattung oder eine Verbindung von Gattungen, welche sich in einem mehr oder weniger dichten Netz von stilistischen Varianten entfalten.
Von den Cantes derivados können wir drei hierarchische Untergruppen unterscheiden:
a) direkt und indirekt an die Cantes primitivos gebundene,
b) zur Familie des Fandango gehörende,
c) von Cancioneros populares (Volkslieder) abstammende Gesänge.
Auf dem Gebiet des Tanzes (Baile) würde, angesichts seiner nicht konkretfaßbaren und heterogenen Entwicklung jeder Klärungsversuch den Wert einer bloßen Vermutung nicht
übersteigen. Die andalusischen Zigeuner haben immer die Idee des Tanzes mit der eines Festes assoziiert, und es entsprechen diejenigen Tänze, welche am Rande des fundamentalen Stammes festero (Fest)
auftauchen, mehr der individuellen Schöpfung als der Tradition.
I. Cantes primitivos
a) Tonás
Die Tonás bilden den reinsten und ehrwürdigsten Ausgangspunkt des Flamenco, die älteste Manifestation der Kunst andalusischer Zigeuner, die auf uns gekommen ist. Sicher ist dabei nur,
daß die Tonás die anfängliche Kristallisation des Flamenco bilden, historisch verifiziert durch einen langwierigen, verborgenen Prozeß der Verschmelzung der Bestandteile des andalusischen Orientalismus und der
eigentümlichen, expressiven Modi der Zigeuner. Es genügt ein Blick auf die ältesten Tonás-Handschriften, die sich erhalten haben, um festzustellen, bis zu welchem Punkt in ihnen das klägliche und zugleich
turbulente Leben eines Dorfes reflektiert worden ist. Niemals wird zur Widerspenstigkeit oder Rebellion auf dem humanen Fundament dieses Gesanges aufgerufen, sondern zu einer Art aufbrausender Zustimmung,
sei es auch paradox. Seine Themen bezeichnen die großen Themen des Flamenco primitivo:
El Amor y la Muerte (Liebe und Tod), La Carcel y la Libertad (Kerker und Freiheit), La Sublimación y la Presencia de la Madre (Erhebung und Gegenwart der Mutter); also das ganze Inventar der moralischen und materiellen Miseren, über die der andalusische Zigeuner reflektiert. Die dramatische Einsamkeit der Stimme braucht keine Begleitung, um geheimnisvoll und ungezügelt, alle schmerzlichen Erfahrungen auszudrücken. Tonás ist ein Begriff für alle Zigeunerstile, die nicht dem Tanz angepaßt werden konnten, oder anders zu sprechen, nicht „festeros” waren.
In die Tonás integrieren sich sechs Stile auf gemeinsamer Basis:
Die religiösen Themen der Toná vor allem in der Form der Saeta und ihrer Ableitung, der Saeta antigua,
wie z.B. das heilige öffentliche Ausrufen, wie es in einigen sevillanischen Dörfern und der Gegend um Cádiz praktiziert wird. Ich werde darauf in der Besprechung von „Fête-Dieu à Séville” näher eingehen.
b) Seguiriyas
Die Seguiriyas bilden den zweiten großen Kern des andalusischen Zigeunergesanges. Obgleich der Name eine phonetische Deformierung von Seguidillas sein dürfte und die Texte
metrisch mit der traditionellen Strophe derselben in Verbindung gebracht werden können, gibt es nicht die geringste Entsprechung im Ausdruck der beiden. Die reinsten Formen der Seguiriyas, die auf uns
gekommen sind, wurden und werden ohne Unterstützung der Gitarre ausgeführt. Auch scheinen sie eingetaucht in die menschlich-tragische Dimension der Tonás. Die Entwicklung und Verbreitung der
Seguiriyas ist ein verzwicktes Kapitel, dessen Erforschung, falls überhaupt möglich, Jahre in Anspruch nehmen dürfte - für einen Musikforscher mit dem Ehrgeiz eines Bartók dennoch vielleicht lohnend.
Jeder Cantaor (Singer) der Seguiriyas muß dem Gesang seinen persönlichen Stempel aufdrücken. Der große und erschütternde Jammer, die diffizile „rassische” Integrität seiner
Sprache (wörtlich „rajo”, vermutlich ein Slang-Ausdruck für eine „typische” Sprechweise) entsprechen einem unveränderlichen menschlichen Mechanismus und derselben Flamenco-Triebfeder. Die
Seguiriyas werden niemals getanzt.
c) Soleares
Die überfließende und leidenschaftliche Verwandlung der Soleares - Wiege vieler anderer Gesänge - kennzeichnet einen entscheidenden Unterschied zu späteren zigeunerischen Schöpfungen und zu
den öffentlichen Erscheinungen der Tonás und Seguiriyas. Ihre ersten Äußerungen treten Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts auf, vermutlich als Gesang, der speziell als Funktion des Tanzes
begriffen werden muß, abgeleitet von einigen alten Formen des Jaleo. Die Soleares sind die dynamischste und notwendigste Konsequenz der üppigen künstlerischen Inspiration der Zigeuner in
Südandalusien. Die Lokalisierungen und Varianten der Soleares sind weniger abgegrenzt als im Falle der Seguiriyas. Geographisch gesehen bewegen die Soleares sich, mit mehr oder weniger
verwechselbarem Profil, um Triana, Jerez, Alcala, Cádiz, Lebrija und Utrera. Die mündliche Überlieferung ist hier der einzige Bezugspunkt, wo man die mannigfachen Beziehungen und Beeinflussungen der
Cantaores untereinander feststellen kann; wie etwa die Soleares von Triana die von Jerez beeinflussen und umgekehrt.
Die Soleá ist die reichste und dynamischste Gattung der Flamenco-Kunst und ein Gesang, der vollständig dem Tanze beigeordnet werden kann. Die Soleá ist in der Hauptsache dem Weibe
vorbehalten. Ich werde bei Betrachtung von „JEREZ” noch näher auf die Soleá eingehen und dabei vor allem auch den mit ihr untrennbar verbundenen Begriff des
Cante jondo diskutieren.
II. Cantes derivados
a) Gruppe der direkt mit den Cantes primitivos verbundenen Gesänge.
Es seien nur die in der Iberia-Suite vorkommenden Typen angeführt: Polo (in „EL POLO” und „EL PUERTO”) und Bulerías (häufiger vorkommend). Die Bulerías,
direkte Nachfahren der Soleá, sind ein Gesang, der grundsätzlich für die Begleitung des Tanzes geschaffen wurde; er konstituiert einen der fundamentalen, diffizilsten und zugleich strengsten Rhythmen. Der Name dieses Gesanges scheint von „Burlería” herzurühren. Die Palette seiner Spielarten ist breit; es gibt zwei Hauptarten: 1. Bulerías festeras (zum Tanzen) 2. Bulerías al golpe (zum Singen). Die erste Art ist besonders fruchtbar und veränderlich, indem sie eine reihe von eigenständigen Entfaltungen
und thematischen Anpassungen zuläßt. Die zweite, wegen ihrer Beschaffenheit des zur Soleá bezogenen Gesanges (vgl. „EL ALBAÏCÍN”), bietet bereits eine klare Rangfolge innerhalb der edleren
Abkömmlinge der Cantos primitivos; diese Form wird auch Bulería por Soleá genannt.
Einer der wenigen Tanzlied-Charaktere, die sich innerhalb des Spielraumes der allgemeinen Verbreitung des Flamenco erhalten haben - den eigentümlichen Zeremonien der Zigeuner beigeordnet und
rituellen Charakters - ist die Alboreá oder Arbolá (Tagelied). Ihr ausdrucksvoller Aufbau rührt her von den Soleares, schon in der gewissen, den Bulerías benachbarten festero-Stimmung. Die
Alboreás waren wohl ursprünglich eine Wiederanpassung an jene alten Zigeunerweisen, kanalisiert nach der Form der Tonás. Unter heutigem Gesichtspunkt hat die Alboreá etwas vom Gesang eines Überganges,
gelegen zwischen den primitiven Stilarten des Jaleo (Anfeuern durch Händeklatschen und Zuruf) und der tanzbaren Soleá. Die Tradition, oder besser der Aberglaube, hat seinen Gebrauch mehr oder
weniger außerhalb von Zigeunerhochzeiten verhindert. Vielleicht kennt man deshalb nur einige wenige spezifische Formen. Jedenfalls verleitet die Tatsache, daß es keine Handschriften mit Slang-Termini
gibt, zum Zweifel darüber, ob die Alboreá schon immer ein ausschließlich privat-zeremonieller Zigeunergesang war.
Von Albéniz gibt es ein Klavierstück mit dem Titel „Alborada”, das die eben geschilderten Charakteristika auf künstlerisch vollendete Weise in feiner Stilisierung aufweist.
b) Fandangos
Die Herkunft des Fandango, sofern er mit den Flamenco-Varianten eines vermutlich gemeinsamen andalusischen Stammes verbunden ist, ist recht rätselhaft. Man weiß, daß es von alters her
einen Tanz arabischen Ursprungs gab - und später eine maurische Abzweigung - , aber die Zahl der im Flamenco eingebürgerten Tänze ist Legion. Jede Region und praktisch jedes andalusische Dorf legt Wert auf
seine Eigenständigkeit: von Málaga nach Almería, von Huelva nach Jaën und von Córdoba nach Murcia fällt die Ausbreitung des Fandango zusammen mit der Ausbreitung des Flamenco außerhalb seines geographischen
Ursprunges. Möglicherweise waren jene „primitiven” Volkslieder (Cancioneros populares), die dem maurischen Tanze angeglichen worden sind, immer mehr dabei, die gerade in Mode befindlichen
Gesänge zu beeinflussen, bis zur ungezügelten „Flamencisierung”, und ohne sich einer bestimmten rhythmischen Maßreglung zu unterwerfen. Sicher ist: ausgehend von der Mitte des 19. Jahrhunderts
wandelten sich die Fandangos in der fruchtbarsten andalusischen Region um. Dies legt einmal mehr die Abhängigkeit der unterschiedlichen regionalen Brauchtümer voneinander nahe. Ich spreche hier
selbstverständlich nicht von Fandangos individueller Schöpfung als einem aus ausdrucksvollen Bruchstücken der Soleares komponierten Gesang, ebensowenig von anderen nachgemachten Zusätzen in der Minderzahl der
Fälle, deren Flamenco-Reinheit abhängt von der des Cantaor.
Einer der Gipfel des andalusischen Fandango ist die Malagueña. Ihre Struktur basiert auf anderen, älteren Fandangos der Gegend um das Dorf Alora: die sogenannten Verdiales
und Bandolás (Mandolinen). Eine für die Iberia-Suite wichtige Ableitung ist die Rondeña.
c) Canciones populares
Diese Formen sind in der Iberia-Suite nur gering nachweisbar. Die ungeheure Anzahl der Ableitungen würde den Rahmen dieses kurzen Abrisses der für die zum Verständnis der Suite nötigen
Grundbegriffe sprengen.
Die Grundelemente des Cante jondo
Der Gebrauch enharmonischer Intervalle im Sinne einer Modulation, ähnlich bestimmten Gesängen in Indien und anderen orientalischen Ländern. Jeder alterierbare Ton wird unterteilt,
sodaß in manchen Fällen sogar die Anfangs- oder Endtöne einiger Modi alteriert sind. Hinzu kommt die Anwendung des vokalen Portamento: die Stimme wird so geführt, daß sie die unendlichen Nuancen
produziert, welche zwischen zwei verbundenen oder getrennten Tönen liegen.
Der Gebrauch eines melodischen Feldes, das selten den Umfang einer großen Sexte überschreitet. Diese Sexte jedoch besteht nicht nur aus neun Halbtönen wie in der
abendländischen temperierten Skala. Durch den Gebrauch enharmonischer Intervalle kann der Cantaor die Zahl der Töne beträchtlich vermehren. Beispiel 1 läßt anhand eines willkürlich gewählten Motivs den Sachverhalt allerdings nur erahnen, denn in unserer Notationsweise läßt sich diese „enharmonische Monodie” kaum darstellen:
Der wiederholte Gebrauch eines einzelnen Tones, der laufend von einem Vorschlag oder kurzen Triller von oben oder unten begleitet wird (vgl. „EL PUERTO”, Takte 83ff.). in bestimmten Gesängen
der Cante-jondo-Gruppe, etwa in den Seguiriyas, erlaubt dies eine Aufhebung des Gefühls einer streng metrischen Rhythmik, was den Eindruck einer gesungenen Prosa hervorruft, obwohl der Text in
Versen steht (vgl. die Copla von „RONDEÑA”).
Obwohl die Zigeunermelodik reich ist an ornamentalen Möglichkeiten, werden diese jedoch nur in
bestimmten Momenten angewandt, wie das etwa in urtümlichen orientalischen Gesängen geschieht, um die Zustände der Erregung oder Entspannung auszudrücken, die die emotionale Kraft des Textes
suggerieren. man muß sie eher als vokale Inflexionen ansehen denn als ornamentale Wendungen, obgleich sie als solche klingen, wenn man sie in die quasi geometrischen Intervalle der temperierten
Skala transponiert.
Die Rufe, mit denen man die Cantaores und Tocaores (Instrumentisten) anfeuert, haben ihren
Ursprung in einer Gewohnheit, die man in ähnlichen Fällen bei den meisten orientalischen Völkern beobachten kann.
„In Andalusien betätigt man sich auf sehr spontane Weise auf der Gitarre. Es ist merkwürdig, daß
spanische Komponisten „diese Effekte” negiert oder als barbarische verachtet haben; oder sie adaptierten sie auf altväterische Weise in herkömmlichen musikalischen Prozeduren. Debussy hat sie
anzuwenden gelehrt! Und das Ergebnis kam unverzüglich: die zwölf bewundernswerten Kleinodien, welche uns Isaac Albéniz hinterlassen hat unter dem Namen IBERIA.”
(Manuel de Falla)
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Iberia-Suite, daß dieses in mancher Beziehung Summe ziehende
Riesenwerk nicht im Heimatlande des Komponisten, sondern in der Fremde, in Paris entstanden ist. Doch
immerhin verkehrte Albéniz dort mit Männer wie Ravel, Fauré und Debussy. Letzterem gegenüber legte er wegen dessen angeblichen akademischen Formstrebens eine gewisse Animosität an den Tag. Hierin
übrigens nicht unähnlich Eric Satie, der auf Debussys vorgeblichen Formalismus witzig, aber bescheidener als
Albéniz mit Stücken wie ‘Sonatine bureaucratique’ oder ‘Morceau en forme de poire’ geantwortet hat. Nun
kann man der Suite wirklich nicht den Vorwurf eines wie auch immer gearteten Akademismus machen. Davor behütet sie das stete Festhalten am Geist der Volksmusik im Verein mit der Idealisierung iberischer
Lied- und Tanzformen, und nicht zuletzt auch die unbändige Vitalität ihres Schöpfers. Genausowenig kann
man ihr den Vorwurf der Formlosigkeit machen. Oft bis ins kleinste hat der Komponist die Schemata mancher Verszeilen bis hin zur festgelegten Zahl der Silben seinen Melismen und Rhythmen beigeordnet.
Das Werk wurde nicht zuletzt mit Blick auf die transzendenten virtuosen Fähigkeiten des genialischen Pujol -
Schülers Joaquin Maláts geschrieben, der als erster alle vier Hefte in Spanien spielte. Blanche Selva
hingegen bereitete unter der Betreuung des Meisters die Welturaufführung in Paris 1908 vor. Freilich wollte
sie an manchen bisher ungekannten technischen Diablerien schier verzweifeln, aber Albéniz blieb hartnäckig:
„Sie werden es spielen!” In der Tat zieht der große Virtuosen-Komponist (er hatte immerhin über zwei
Jahre -. 1878-1880 - mit Liszt in Rom und Weimar zusammengearbeitet) eine Art technischer Summe von in dieser Anwendung bisher nicht gekannten Spielformen: etwa der Gebrauch von intrikaten Quart- und
Quintfolgen, Überkreuzungen beider Hände kompliziertester Art oder häufiger Einsatz des besonderen
Akkordes „Racimo de uvas” (Tontraube). Dieser kommt schon bei Domenico Scarlatti in den „spanischen”
Sonaten vor und war noch um 1900 so ungewöhnlich, daß Alessandro Longo in seiner Scarlatti-Ausgabe ihn
entweder nur als Fußnote wiederzugeben wagte oder ihn in einigen Fällen gleich ganz unterschlug. Daß die
Technik nicht oder nur selten Selbstzweck ist, sondern der komplizierte Inhalt der Iberia-Suite höchste
Kunstfertigkeit erfordert, versteht sich bei näherem Zusehen von selbst. Albéniz’ zwar kleine aber dehnbare
und fleischige Hand ließ die Überwindung jeglicher Schwierigkeit zu. Dabei enthielt er sich in allen zwölf
Stücken herkömmlicher technischer Formeln wie Tonleitern und Arpeggien fast völlig. Was das rein Musikalisch-Handwerkliche angeht, so weiß man von seinem Lehrer Felipe Pedrell, daß Albéniz von
Kontrapunktregeln, Akkordauflösungen und anderen „Hieroglyphen” wenig verstand oder verstehen wollte.
Seine Künstlerpersönlichkeit konnte und wollte sich akademischem Regelwerk nicht anverwandeln. Er hatte
sich die Musik von Kindheit an auf dem Klavier „ertastet” - ein Weg, der in gewissen „gebildeten” Kreisen
verpönt zu sein schien. Freilich, in Paris, wohin er 1893 auf Bitten seiner Frau gezogen war, fühlte er sich
auf solcher Basis als „bloßes” Naturtalent unter seinen hochgebildeten französischen Künstlerkollegen nicht
recht wohl. Dagegen war er mit Charles Bordes eine engere Verbindung eingegangen. Dieser für seine
Studien über baskische Musik und entsprechende Eigenkompositionen bekannte Mann berief Albéniz an die Schola Cantorum und verschaffte ihm damit Zugang zum Freundeskreis eines Gabriel Fauré, Paul Dukas und
Vincent d’Indy. Albéniz versuchte nun, das angeblich Verlorene nachzuholen, indem er mit Blick auf das
Wohlwollen der Schola fleißig studierte, seine früheren, einfacheren Werke (Tänze, Lieder, Klavierstücke
und Zarzuelas) als „Musiquette” abqualifizierte - und dabei sein eigentliches Naturell verleugnete. Daraus
erklärt sich auch die im Vergleich zu den früheren Werken üppig wuchernde Polyphonie der Iberia-Suite,
was der früheren Spontaneïtät den Dämpfer schierer Künstlichkeit aufsetzte. In dieser Künstlichkeit scheint
Albéniz Ravel verwandt, ohne dessen Abgründigkeit auch nur zu streifen. Luzidität und Serenität liegen auch noch über den tiefsten Tiefen der Cante-jondo-Weiten von „EL ALBAÏCÍN” und „JEREZ”.
Eine hermeneutische Betrachtung des ersten Stückes „EVOCACIÓN” drängt sich da vor dem Hintergrund Albéniz’ Jahre in Paris förmlich auf. Im fremden Land unter Menschen, deren Art zu musizieren ihm eher fremd ist, beginnt der Komponist, sehnsüchtig von der Heimat zu träumen. Gleichsam auf eine Beschwörung
(‘evocación’) der Geister Iberiens hin taucht aus dem geheimnisvollen Nebel eines sanft schwankenden Rhythmus’ ein Fandanguillo in der entlegenen Tonart as-Moll auf : Beispiel 2 („Evocación”, Anfang):
Dazu erklingt in der Altlage ein sonorer, improvisierter Jondo-Gesang mit den Charakteristika der Soleá,
deren Inhalt Einsamkeit und Verlassenheit ist. Ganz regulär im Tripeltakt und Allegretto-Tempo dahinfließend, kann man den ersten Abschnitt (T. 1-11) als Ausführung der üblichen Soleá-Strophe aus quasi
gereimten Versen anhören, von denen der erste Vers acht Silben, der zweite und dritte je neun Silben haben. Beispiel 2deutet die angenommenen Silben des ersten Verses durch Ziffern an. Dann schaltet sich vor dem
vierten Vers eine freie melodische Linie ein, welche zur Dominante moduliert, worauf der formal nur
angedeutete Vers ab T. 19 ‘clair’ und ‘dolce’ in überirdischem Dur erscheint. Cante-jondo-Motivik fällt
erstmals T. 6-7 auf, wo der Komponist „enharmonische” Intervalle darzustellen versucht, die für das
europäische Ohr orientalisch-exotisch und damit „fern” klingen. Die typischen spanischen Appoggiaturen
kommen ab T. 3 immer wieder vor. Sie werden vor der Zählzeit ausgeführt, wogegen das eigentliche Pralltrillerzeichen auf die Zählzeit ausgeführt werden sollte. Ein Sonderfall ist der in kleinen Noten
ausgeschriebene Pralltriller mit dem Akzentzeichen auf der ersten Note. Die Überlieferung ist hier nicht eindeutig und wohl vom Kontext und der Stilsicherheit des Interpreten abhängig.
Es folgt ein längerer Soleá-Gesang, oktaviert und klangreich mit Terzen aufgefüllt (T. 27ff.); er geht auf im
Glockengeläut ab T. 35. Der Abschnitt T. 47-54 bringt unpersönliche, geradezu abstrakte Klangmalerei auf
Jondo-Basis; sie leitet über zur Copla. Die Copla ist der gesangliche Mittelteil zwischen den beiden stark
stilisierten Fandango-Tanzteilen. Wiederum regulär zum Soleá-Schema ist das Tonartverhältnis zwischen
Haupt- und Mittelteil: as-Moll - Ces-Dur. Dabei steht im Baß jedoch die Quinte, was der Tenormelodie den
für den Quartsextakkord typischen schwebenden Charakter verleiht. Derweil erklingt in der Sopranlage ein Glockenspiel ‘très souple’ und ‘ppp’: Beispiel 3 (T. 55-57)
Eine weitere häufig vorkommende Art des Pralltrillers taucht in den Takten 57, 61 etc. auf. Er darf nicht
hastig, sondern soll wie notiert rhythmisch exakt, als ein der Melodie eigener Teil ausgeführt werden. Ab T.
75 beginnt eine sich überdimensional steigernde Überleitung (‘dolcissimo pp’ - ‘fff’) und bringt zum ersten
Mal die so häufig vorkommende Akkord-Melodie, die für kleine Hände im verlangten Legato und Dolcissimo
nur schwer ausführbar ist. Die abstrakte Klangmalerei der Glockenepisode, diesmal auf der Grundlage der
Gantonleiter, folgt und bereitet den Wiedereintritt des Tanzes vor (T. 103). Diesmal jedoch mit der Quinte im
Baß, zuerst als Tonika-Quartsextakkord, dann im letzten Moment (T. 114) raffiniert umgedeutet zum Grundton des Dominantseptakkordes von As-Dur. Verschleiert wird das Thema durch Auffüllung mit
Terzen (T. 103f.), und im Tenor taucht (T. 105ff.) stiilisiertes Gitarrenspiel auf. Seine Realisierung auf dem
Klavier geschieht am besten mit wenig oder kleinem Pedal und trockenem „Zupfen” der Tasten.
Der Tanz erstirbt jedoch vorzeitig und muß einer Apotheose des Copla-Themas weichen. Es erscheint
‘souple, trés doux et lointain pppp’ in der verdurten Tonika, jetzt mit dem Grundton im Baß. Ganz
eigentümlich hier die delikate Umspielung der Sixte ajoutée (T. 116f.) Ein Tonalitätssprung führt ‘très
lointain’ in die unendlich ferne Tonart ces-Moll, fast beziehungslos dastehend und nur durch einen kahlen,
einsamen Akkord symbolisiert. jegliche kinetische Energie ist zum Stillstand gebracht, was in der Musik einer
Darstellung des nichts gleichkommt. Noch einmal taucht mühsam eine dumpfe Ahnung des Tanzmotivs in
der Tenorlage auf ‘ absolument attenué, ppppp’ (T. 145-148), verschwindet aber wieder in Fermaten. Ein
fast gewaltsam einsetzenden G-Dur-Akkord mit Leittonfunktion zwingt die Lösung nach As-Dur herbei, mit dem „EVOCACIÓN” in der weiten Ferne einer letzten Sixte ajoutée verhaucht.
Die einzigartige Durchdringung von Polyphonie und Homophonie hat gleich im ersten Stück der Iberia-Suite
zu hoher Poesie geführt’; es kann mühelos neben den besten Werken des „Impressionismus” bestehen.
Technisch für leicht befunden und bei Wettbewerben deshalb nicht zugelassen - zum Glück für das Werk -
ist doch die klangliche Darstellung nur einem Magus des Klaviers möglich. Hinzu kommt eine freilich in den
meisten Stücken der Suite vorkommende Eigenheit: das eigentümliche „iberische” Rubato. Es ist von den
romantischen oder barocken Rubato-Arten so verschieden, wie alle zusammen vom metronomisch genauen Taktschlag verschieden sind. Es ist mit den Mitteln der Sprache nicht darstellbar, man kann es nur hören,
verstehen und - spielen!
El Puerto de Santa María ist eine traditionsreiche Hafenstadt an der Mündung des Rio Guadalete, etwa 30
km südwestlich von Jerez de la Frontera, gegenüber von Cádiz. Entsprechend des vielgestaltigen Treibens des dort seßhaften Menschenschlages verknüpft „EL PUERTO” in bemerkenswerter Weise drei verschiedene,
aber doch gemeinsam von der andalusisch-zigeunerischen Tradition abhängigen Tanzformen. Da ist zunächst ein Polo, der zwar beginnt (T. 1), als ob er die Solidá (Gitarrenvorspiel) der entsprechenden Polo
-Gesangsweise anstimmen wollte (Beispiel 4, T. 1-3), aber in T. 7 abrupt von einem Bulerías-Rhythmus unterbrochen wird (Beispiel 5, T. 7-8), um danach nun doch, jetzt ‘ très décidé’, den Tanz einzuleiten, der in
Takt 11 mit Schuh- und Kastagnettengeklapper und Händeklatschen beginnt (Beispiel 6, T. 11-13). Er wird T. 18 bereits wieder von derBulería und ihren Synkopen unterbrochen. Dieses Wechselspiel setzt sich
solange fort (T. 25: Polo, T. 41: Bulería), bis ab T. 45 die Bulería ihren vorläufigen Sieg davonträgt, um nach einiger Zeit T. 55 abrupt in eine Seguiriya-Episode zu münden. (Beispiel 7, T. 54-56). Einem ostinaten
Baßmodell über dem Orgelpunkt auf Des wird eine rhythmisch-melodiöse Linie synkopiert entgegengesetzt,
beide verfremdet durch die Cante-jondo-Technik der ‘enharmonischen’ Intervalle. Diese Seguiriya-Episode
beruhigt das musikalische Geschehen derart, daß ab T. 75 der ehedem fröhliche Polo nur noch fern und zaghaft angedeutet wird.
War bisher das harmonische Geschehen eintönig auf die Basis Des beschränkt, so wirkt der in T. 83
vollzogene plötzliche Sprung zur Subdominante um so erregender. Der folgenden Abschnitt bis T. 108 (mit
Überleitung bis zu der in T. 123 wieder einsetzenden Reprise des A-Teiles) ist für die Andeutung einer Copla
zu nehmen. In ihr sind ebenfalls alle drei Tanzrhythmen kunstvoll nebeneinander gesetzt. Zunächst
erstaunlich, daß Albéniz hier die enharmonische Schreibweise bevorzugt (Fis bzw. H statt Ges oder Ces).
Doch sticht das Argument einer besseren Lesbarkeit angesichts anderer Stellen in der Iberia-Suite, die mit
acht bis zehn Vorzeichen belastet sind, hier wohl nicht. Hört man nämlich, wie ganz wundersam der vorher so jauchzende und klappernde Polo-Tanz-Rhythmus
sich in den entsprechenden Polo-Gesang verwandelt hat, dann liegt der Schluß nahe, der Komponist wollte die neu erreichte musikalisch-emotionale Ebene auch
durch riesenhafte Entfernung im Quintenzirkel konstituieren. Und Fis klingt eben doch anders als Ges
(entgegen den Versicherungen der Physiker und Techniker): subjektiv in der Imagination des Interpreten und
Hörers, aber auch objektivierbar durch die hier in Frage kommende Cantaora (Singerin) - nämlich höher.
Der Interpret muß da in der Lage sein, die menschlich tragische Dimension der Toná, mit welcher der Polo
als Cante derivado direkt verbunden ist, ‘très langoureux’ und ‘rubato (spanisches!) é espressivo’ ins Ohr des Hörers zu tragen (Beispiel 8, T. 83-85).
Nach einer fast wörtlichen Reprise des A-Teiles tritt nach einem ‘Sotto-voce’- und ‘Perdendosi’-Abschnitt
die Coda ein, ‘ très lointain’ und ‘ppp’, mit dem Polo-Tanzrhythmus. Das Leben in der Hafenstadt beruhigt
sich in der fortschreitenden Nacht, nur das mondlicht spiegelt sich noch im Wasser des Golfes von Cádiz (Beispiel 9, T. 179-180). Selten ist eine Musik gelungen, die auf so„eintöniger” harmonischer Grundlage
ein so reiches Klangleben entfaltet, den Einsatz von Vorhalten in Verbindung mit vielgestaltigen Rhythmen so
wirkungsvoll zur Geltung bringt und dabei gegensätzlichste Gefühlswirkungen auf engstem Raume auslöst.
Der Interpret denke beim Vortrag daran, daß bereits der römische Dichter Martial von den Frauen von Cádiz
berichtet, welche die (gesungene) lyrische Poesie gepflegt und im kleinasiatischen Ionien verbreitet haben, wo Anakreon ihre ihre Anregungen aufgenommen hat. Und er denke an die berühmten braunhäutigen und
dunkelhaarigen „Puellas Gaditanas”, welche im Gefolge des Imperators Metellus nach Rom einzogen und mit ihren virtuosen Tanzschritten, dem effektvollen Gebrauch der Kastagnetten und dem Vortrag lasziver
Gesänge das Publikum begeisterten.
Der spanische Titel lautet „El Corpus (Christi) en Sevilla”. Und in der Tat kann man von einer Art
Körperhaftigkeit dieser Musik sprechen: sie ist das reinste Beispiel für Programm-Musik in der Iberia-Suite. Das vom Komponisten gedachte Programm wird von Pianistengeneration zu Pianistengeneration
weitergegeben und ist unschwer zu erkennen. Mit seiner Darstellung geht eine hermeneutische Analyse Hand in Hand.
Geheimnisvolle Erwartung schürender Beginn durch einen viermal wiederholten leisen, wie von ferne klingenden Trommelwirbel (Beispiel 10, T. 1-2). Albéniz hatte die Angewohnheit, nach jedem
„Trapataplam” die Hände blitzartig von den Tasten abzuziehen und sie über dem Bauch zusammenzufalten. Dieser Trommelwirbel bildet das Signal zu dem Beginn des Festzuges, der alljährlich in Sevilla am
Fronleichnamstage stattfindet. Der Hörer befindet sich zunächst am Rande des Geschehens und bekommt den Eindruck vermittelt, aus der Ferne nähere sich ein Festzug mit Marschmusik. Das Thema dieser
Marcha (Beispiel 11)ist - aus welcher skurrilen Laune des Komponisten heraus auch immer - merkwürdigerweise identisch mit dem bekannten katalanischen GassenhauerLa Tarara
. Das Lied findet sich übrigens in der Sammlung „Volksmusik aus Burgos” aus dem Jahre 1902 von Federigo Olmeda:
LA TARARA
La Tarara tiene una saya verde pero no la pone más que cuando llueve.
Tiene la Tarara unas pantorrillas que parecen palos de colgar morcillas.
La Tarara sí, la Tarara no la Tarara mía de mi corazón.
Tiene la Tarara unos calzoncillos que de arriba abajo todos son bolsillos.
Tiene la Tarara un cuerno en la frente que si fuera toro mataría a la gente.
La Tarara sí, la Tarara no la Tarara mía de mi corazón.
Y da vuelta al torno y ella se menea y ella zarandea la punta del pie.
La Tarara sí, la Tarara no la Tarara mía me la baile yo.
(D. Sixt Córdoba)
(Beispiel 11, T. 8-15 )Fünf Sätze entsprechen sich genau, derEstribillo (Refrain) aber nicht, der zu sehr
variiert. In einer großartigen, weit angelegten Klimax nähert sich der Umzug immer mehr, man hört bereits die Triangel (T. 40ff.), Große Trommel, Tuba und Becken (T. 55ff.), bis schließlich der ganze Zug vor einem
Balkon mit großem, Aufmerksamkeit heischendem Geklingel und Gerassel anhält (T. 71-82). Nun singt ein Cantaor vom Balkon herab über die Menge hinweg falsettierend eine Saeta jonda (Beispiel 12), nach Art
desPregón, des heiligen öffentlichen Ausrufens. Die Marschmusik mit dem Tarara-Thema geht dabei im kurzatmigen Zweiertakt weiter, während das Saeta-Thema im Vierertakt weit ausschwingt (Beispiel 12, T.
83 und 85). Man kann gar nicht genug auf den religiösen Charakter derSaeta aufmerksam machen, denn
gerade die Episode ab T. 83 wird von manchen der mutigen Klavierspieler, denen die Überwindung der technischen Schwierigkeiten glücklich gelungen ist, aus lauter Freude über dieses Gelingen zur klirrenden,
berstendenTriangelmusik degradiert, während die Würde des gediegenen Saeta-Themas im (zu) schnellen
Sechzehntel-Geflimmere des ordinären Gassenhauers untergeht. Daß Albéniz beide Klangschichten mit ffff
bezeichnet hat, entbindet jedoch nicht von der für Musiker selbstverständlichen Pflicht zur ausgewogenen
klanglichen Darstellung. Man vergegenwärtige sich das ‘Pange lingua’ der westgotischen Liturgie.
Die Form der Saeta muß man als einen Zweig der Tonás, soweit diese religiös bezogen sind, betrachten - so,
wie es sich in der Art des Pregón, des Ausrufens vom Balkon, manifestiert. Es ist dies eine kulturelle
Eigenheit nur einiger Dörfer um Sevilla und dem Gebirgsland hinter Cádiz. Die Saetas sind zweifellos diejenigen Tonás, welche eine verbreitetere und beschleunigte Entwicklung im Laufe der Zeit erfahren
haben; noch immer werden bestimmte ursprüngliche Stilarten gepflegt. Damit hat man kunstvolle Flamenco-Verbindungen erreicht. Warum man in der Karwoche im Rahmen der Prozessionen solcherart zu singen
begann, ist aber nicht recht verständlich. in Verbindung mit den heiligen Pregones, welche den Saetas am
nächsten stehen - noch näher als die Martinetes - , sind es vermutlich Arten vom jeweils lokalen Typus (also
nicht die zigeunerischen!) der ursprünglichen religiösen Tonás, d.h. derjenigen Tonás, die im 18. Jahrhundert
den Beinamen „del Christo” trugen. Jedenfalls kann man sagen, daß diese Pregones mit Beinamen wie „del
Huerto”, „de Judas”, „de Pilato”, etc. eine jener verbundenen Quellen orientalisch ‘andalusierter’ Musik
darstellen. Aus ihnen sollte eines Tages die Toná schöpfen, und aus ihnen stammen die embryonalen Formen der Zigeunerlieder, die wir heutzutage als „Flamenco” kennen.
Ein Übergang rein dynamischer Art (rhythmisch gibt es nur gleichmäßige Sechzehntel, Harmonik ruht stabil
im pentatonischen Feld) von ffff bis pppp bahnt den zweiten Teil der Saeta an, der hier die Stelle der Copla vertritt (Beispiel 13, T. 111-112). Der Gesang fliegt nun zwischen mehreren Balkonen hin und her,
wehklagende „ayayay”-Rufe hallen über den Platz und werden vom Wind in die Ferne getragen „absolument estompé, trés trés lointain” und „ppppp” (T. 131ff.). Hier begegnet auch ein besonderes Saeta
-”Rubato”, das Albéniz versucht hat, so bezeichnend wie möglich zu notieren: accel. - poco - rit. (Beispiel 13, T. 111a+b, etc.). Eine Anmerkung besagt, die Fermaten am Zeilenende seien wie ein Atemholen
zu behandeln. Man versuche als Vortragender, an den entsprechenden Stellen wirklich mitzuatmen,
dann wirkt es ganz natürlich und überzeugend. In der Saeta sollte man selbstverständlich nicht ängstlich die Taktglieder zählen. Auf der Dominante setzt sich T. 139 „sotto voce” wieder die Prozession, mit welcher
der Hörer jetzt weiterwandert, in Bewegung. Die Marcha steigert sich schnell von pp bis zu fffff („si
possible”), die Saeta-Melodie staut sich in einen gewaltigen H-Dur-Akkord und das „Tarara” geht unter im Glockengeläute der Kathedrale von Sevilla (T. 181ff.). Schließlich triumphieren ohrenbetäubender Lärm und
ein schnatterndes Stimmengewirr auf dem großen Platz, wo noch das „tarara” herauszuhören ist (Beispiel 14, T 189-191). Und als ob der Steigerungen noch nicht genug wäre, erscheint der Gassenhauer gleichsam
pervertiert in einem geradezu manisch ausgelassenenTripeltakt (Beispiel 15, T. 237-241), bis die endliche Erschöpfung die Festero-Stimmung in einem mächtigen fffff-Schlag beendet. Die Coda, breit
ausschwingend in der „himmlischen” Tonart Fis-Dur, bringt neben naturalistischen Glockenklängen noch eine wehmütige Cante-jondo-Linie (Beispiel 16, T. 274-277) und läßt das Stück und damit das Ende des ersten
Heftes der Iberia-Suite pppp im Negativ-Effekt ausklingen.
Dieser Schluß birgt noch die Gefahr des Zerbrechens, wenn das Tempo gar zu langsam genommen wird.
Lang auszuhaltende Harmonien in orchestralen Farben bilden ja eines der Grundprobleme der Pianistik, da der Klang sofort nach seiner Erzeugung immer leiser wird. Auch der Hörer bekommt Schwierigkeiten, die
Klänge bei sehr langsamem Tempo in seiner Fantasie zu verbinden, zumal im vorliegenden Fall auch die Bewegung an sich fast zu früh zum Stillstand kommt und folglich auch dieser Anhaltspunkt fehlt.
Die orchestrale Diktion der ganzen Suite hat schon früh zu Versuchen einer Adaption für Orchester geführt. Der Komponist selbst unternahm als erster diesen Versuch mit „EVOCACIÓN”. Leider mißlang das Unternehmen, der Klang war zu dumpf, und eine Aufführung in Monaco hatte keinen Erfolg. Mehr Glück hatte sein Freund
Enrique Fernández Arbós (1863-1939), der das ganze erste Heft und dazu „TRIANA” und „EL ALBAÏCÍN” für großes Orchester transkribierte. Er wendete alle Kunstmittel an, deren ein
Kapellmeister seiner Zeit mächtig war, und die Partitur sieht differenziert und „gut” aus. Dennoch: das
klangliche Ergebnis kann nicht befriedigen. Es ist entweder (wiederum!) zu dumpf, zu pastos und undurchsichtig oder zu lärmend. Vielleicht hat sich auch noch kein Dirigent anständig um die Partituren
bemüht?
Der originale Klaviertext vermittelt eine Idee vom Orchester, aber seine Verwirklichung untergräbt eben
diese Idee und vermittelt nur einen eher banalen Bar-Effekt. Und das Bare ist der Kunst fremd. Wer
Klavierwerke orchestriert, negiert im Grunde die Idealität des Klavierklanges und die des dem Klavier zugedachten Kunstwerkes. Der umgekehrte Fall: die Transkription eines Orchesterwerkes für das Klavier
bekommt diesem in den meisten Fällen weit besser. Denn der klare, gleichsam imaginäre Klavierklang vermittelt wiederum auf wunderbare, gleichsam abstrakte Weise den Gehalt und die Idealität des
Orchesterwerkes.
Ronda la Vieja ist eine kleine Stadt in der Serrania de Ronda, dem Gebirgsland um Ronda, das eingegrenzt
wird vom Rio Guadiaro, dem Rio Guadalhorce und der Costa del Sol. Sie gilt als eine Urprungsregion des Stierkampfes. Ronda bedeutet auch Rundgesang oder Ständchen, eine Ableitung ist Rondador
(Nachtschwärmer). Die Rondeña gehört zur Gruppe der Fandangos, deren Etymologie sich vermutlich von Fanda (Gastmahl; frz. festin) herleitet.
Grundsätzlich kann man vom Fandango als einem Werbetanz und Tanzlied im Tripeltakt sprechen Er wird ausgeführt von Gitarre, Schalmei, Sackpfeife, Schellentrommel und
Kastagnetten. In der rhythmisch biegsameren Copla singt der Cantaor einer Partnerin zu. Der spezielle
Typus der Rondeña verkörpert häufig, wie auch im vorliegenden Fall, einen Hochzeitstanz, der auf der Straße
vor dem Fenster der Braut in der Hochzeitsnacht ausgeführt wird. Albéniz wählte die lichte, freundliche und einfache Tonart D-Dur
und einen ständig alternierenden 6/8-3/4-Takt, der das lyrische mit dem rhythmischen Moment koppelt(Beispiel 17a, T. 1-2). Eine mögliche instrumentale Aufschlüsselung des ersten
Taktpaares deutetBeispiel 17ban; Kastagnetten treten erstmals T.17 auf (Beispiel 18, T. 17-18). Dieses
Wissen um die instrumentale Beleuchtung bändigt die Gefahr rhythmischer und harmonischer Eintönigkeit. Denn seitenlang bleibt die harmonische Basis die Tonika (ähnliches wurde schon in „EL
PUERTO” festgestellt), ebenso erhalten sich über lange Strecken die beiden rhythmische Modelle aus den Beispielen 17 und 18.
Hier sei auf einen wohl von Albéniz selbst herrührender Irrtum hingewiesen: T.17/Rechte Hand/erster
Akkord: lies d’’ statt fis’’! Vgl. hierzu die Melodie T. 41 und an ähnlichen Stellen. Leider wird auch in den modernen Urtextausgaben nicht auf dieses Versehen hingewiesen.
Beispiel 17 b:
Neben dieser Instrumentierung gewinnt das Stück seinen Reiz aus dem pointierten, ja geradezu koketten
Einsatz der vielen Vorhaltsbildungen. Die beiden Pralltrillerformen und sollten unterschieden werden.
Was die Überwindung der vordergründigen Eintönigkeit angeht, so hat es der Interpret damit in der Copla auch nicht leichter. denn auf dem Orgelpunkt A1 wird das Malagueña-Motiv(Beispiel 19, T. 103-106,
Melodie)achtmal, und im Rahmen einer Modulation nach Des-Dur noch zweimal wiederholt. Freilich
„entschädigen” dafür der interessante rhythmische Kontrapunkt zum vorigen Rondeña-Rhythmus und die ständig wechselnde harmonische Funktion des erwähnten „Dauertones” (Beispiel 20 T. 135-137).
Zusätzliche Aufgabe ist die Ausführung einer atemgerechten Phrasierung - Zäsuren sind durch 16tel-Pausen dargestellt - und des Rubato español.
Ich führe diese Qualitätsmerkmale nicht zuletzt deshalb an, weil von mancher Seite das irgendwann aufgekommene Vorurteil mangelhafter Qualität des Stückes ständig
nachgebetet wird oder gar von „mehr Fleiß als Inspiration” (Edgar Istel, Musical Quarterly XV, 1929) die
Rede ist. Doch schon die Idee, den Wiedereintritt des A-Teiles um einen halben Ton tiefer zu drücken und
im nächtlichen, schwärmerischen Des-Dur beginnen zu lassen, die weit angelegte, darauf hinführende, nach und nach eindunkelnde Modulation, die genialische kontrapunktische Episode der Takte 190ff. (Beispiel 21,
T. 190-191)und die fröhlich davontrippelnde Coda - dies alles widerlegt die oberflächliche schlimme Fama.
Ähnlich in Stimmung und Gehalt dem vorigen Stück, weist „ALMERÍA” doch auch einige Eigenheiten auf,
welche es neben den Ähnlichkeiten zu vermerken gilt. Es beginnt mit dem Rhythmus einer Taranta, der Rondeña eng verwandt und ebenfalls zur Gruppe der Fandangos gehörend (Beispiel 22, T. 1-2). Der
Rhythmus der Taranta sieht so aus: , also eine ähnliche Verschiebung des Schwerpunktes wie in „RONDEÑA”. Die Taranta hat übrigens nichts mit der italienischen Tarantella zu tun, sondern rührt von den
Tarantes her, wie man die Einwohner der Provinz Jaen zu nennen pflegt, und ist einer ihrer beliebtesten
Tänze. Almería selbst liegt zwar zweihundert Kilometer von Jaen entfernt an der Küste südöstlich der Sierra
Nevada, doch wird die Taranta hier genauso gerne getanzt, und Albéniz hat für die Copla sogar eine Jota-Melodie aus Almería verwendet (Beispiel 23, T. 100-101, 4/4-Takt). Für das weiche melodische Modell
des A-Teiles benützt er den ebenso weichen G-lydischen Modus (Beispiel 22), was zu klanglich reizvollen Reibungen mit G-Dur (cis-c) führt. Dieser harmonischen Zweischichtigkeit entspricht auch völlig eine
rhythmische, und beide Schichten sind säuberlich getrennt auf die zwei Hände verteilt (Beispiel 23).
Vom rein musikalischen Standpunkte aus betrachtet wäre es nun unzulässig, wollte man zwecks
spieltechnischer Erleichterung eine schwierige Note der einen Hand von der anderen übernehmen lassen. Und kann man es doch nicht lassen, Arrangements vorzunehmen, so versuche man, mit dieser Hand so zu
spielen, wie es mit jener gespielt erklänge. Das hat aber wiederum seine Schwierigkeiten, und ein Pianist
muß sich immer in solchen Fällen fragen, ob er den Teufel mit dem Beelzebub austreiben möchte. Die
katalanische Pianistenschule hat in ihrer langen Tradition zweifellos große Verdienste um die Kunst des Klavierspieles sich erworben. Doch den Vorwurf der Verniedlichung technisch mehr oder weniger
schwieriger Stellen muß sie sich gefallen lassen. Denn nicht nur für die Stücke der Iberia-Suite gilt die Erkenntnis, daß technische Spannung auch musikalische Spannung bewirken kann, ja daß die größte
Spannung in der musikalischen Aussage oft die entsprechende technische Anspannung auslöst und beide -
eigentlich! - untrennbar miteinander verknüpft sind. Ein sicher unstrittiger Fall ist z.B. die Fuge aus Ludwig
van Beethoven ‘s Hammerklaviersonate. und welche präzisen musikalischen Vorstellungen Isaac Albéniz in
seinem Werk zu verwirklichen suchte, machen auch seine aufwendigen ‘Gebrauchsanweisun- gen’ deutlich. So heißt es zu Beginn von „ALMERÍA”: „Avec la petite pédale; tout ce morceau doit être joué d’une façon
nonchalante et molle mais bien rythmée.”
Die Überleitung zur Copla bringt nach Momenten der Kraft am Ende des A-Teiles mildes Glockengeläute (Beispiel 24, T. 72-74). Den geheimnisvollen statischen Naturklang zwischen T. 87 und 98, der aus dem für
dieMalagueña typischen absteigenden Moll-Tetrachord zwei Akkorde zitiert, nehmen manche Spieler aus
unerfindlichen Gründen für ein langweiliges Intermezzo. Die folgende Copla bringt eine Jota-Melodie in dem
charakteristischen vokalen Portamento, welches den Cante-jondo-Gesängen zu eigen ist. Ähnlich haben wir das schon in „RONDEÑA” kennengelernt. Die Jota
ist eigentlich ein virtuoser Schautanz (auch gesungen), der ausAragón in Norden Spaniens kommt. Franz Liszt verwendet eine Jota Aragonesa in seiner Rapsodie
espagnol. Ob die Verwandlung in den wehmütigen Cante-jondo-Stil eine Komponistenlaune ist oder ob eine natürliche Evolution auf dem Wege von Norden nach Süden stattgefunden hat, konnte ich noch nicht
feststellen.
Wieder einmal fordert das Rubato Español sein quasitaktstrichloses Recht. Hier besonders raffiniert,
denn die rechte Hand muß über zwei 6/8-Takten der linken einen 4/4-Takt realisieren. Das doppelt punktierte g1 im zweiten Takt von Beispiel 23 sollte solange als möglich ausgehalten werden, als eine Art
Schleifen der Stimme innerhalb desPortamentos. Man hört dazu am besten einen Sänger. Die
Tonrepetitionen sind am besten als Mittelding zwischen Portamento und Parlando aufzufassen, die einzelnen Töne werden mit passendem Pedal miteinander verschmolzen. Vielleicht kann eine Parallele zu den
Tonwiederholungen des langsamen Satzes aus Ludwig van Beethovens Sonate op. 110 gezogen werden.
Eine stark modifizierte Wiederholung des A-Teiles (die dreiteilige Liedform ist die formale Grundlage der meisten Iberia-Stücke) mit Gitarrenimitationen (Beispiel 25, T. 132-133)und sich flächig steigerndem
Klangbild (die ganze Tastenfläche ist in Bewegung)(Beispiel 26, T.159-160)schließt sich an, mündet in ein
Tremolo, welches noch von der entladenen Erregungskraft nachzittert, und mündet in eine komplizierte Tripelpassage aus verminderten und übermäßigen Klängen. Eine längere Reminiszenz an die Copla
„caressant, souple, toujours nonchalant” mit hübschen Akkordtrauben geht dann der Coda voraus (Beispiel 27, T. 199), welche ausnahmsweise nicht mit der stereotypen Formel desQuintfalles endet, sondern die
Dominantparallele vorausschickt.
Das letzte Stück des Blanche Selva gewidmeten zweiten Heftes ist eines der kürzesten, wenngleich
brillantesten der ganzen Suite und „spielt” im gleichnamigen Stadttteil von Sevilla. Wir hören zu Anfang die Einleitung eines Paso doble, ein lebhafter Volkstanz im 3/4-Takt (Beispiel 28, T. 1-3). Diese kurzeEntrada ist eine Variation über das in der Volksmusik so beliebte Molltetrachord(hier: fis-e-d-cis) und endet T. 7 auf der Dominante, geräuschhaft Kastagnettengeklapperimitierend(Beispiel 29, T. 7).Die Vortragsbezeichnung „gracieux et tendre” verführt manche Klavierspieler, mit viel Pedal und weichem
Schwingen der Ellbogen diese Einleitung zu inszenieren. Doch ein solcher Piano-Anfang muß sehr rhythmisch und durchsichtig dargestellt werden, relativ trocken und mit Akzentpedal. „Graziös und
rhythmisch”, so lautet das musikalische Ideal von „TRIANA”. Die Metronomzahl 4tel = 94 ergibt ein
natürliches, keineswegs zu schnelles Pasodoble-Tempo, das allerdings bereits ab T. 48 ruhiger genommen werden sollte.
Der Sänger fordert nun emphatisch zum Tanze auf (Beispiel 30, T. 9-10), der dann T. 15 beginnt, kontrapunktisch von einerMarcha Torera
verbrämt; vielleicht ist der männliche Tanzpartner ein Stierkämpfer?(Beispiel 31, T. 15-16). Der Pianist kann seine Interpretation dieses Abschnittes bis T. 37
durch die Vorstellung unterstützen, der männliche Tanzpartner sei ein Stierkämpfer, der mit der typischen hochmütig-todesverachtenden Miene elegeant hinter seiner roten Muleta am vergeblich drohenden Stier
vorbeitänzelt.
Eigentlich müßte der zweite Teil (Beispiel 32, T. 50-51)in Fis-Dur stehen, doch bringtAlbéniz das Thema
der Copla zunächst in der Durparallele von fis-Moll. Danach ergeht er sich in äußerst brillanten, aber auch vertrackten Variationen über dieses Thema, welches zum zum Charmantesten gehört, was je in Musik
gesetzt wurde (Beispiel 33, T. 58-59, Beispiel 34, T. 66-67). Bezüglich dieser Stellen sagte Albéniz zu
Blanche Selva, die das Stück zur Uraufführung brachte: „J’ai écrit cela pour voir tes petites mains blanches bibelôter!”
Nach vorübergehendem Erscheinen einer Rhythmusgruppe des ersten Teiles (T. 102 - 109) erklingt das Copla-Thema nun doch, apotheosiert, in Fis-Dur (Beispiel 35, T. 110-111). Die Schlußtakte nach einer
leisen, trockenen und scherhaften Coda bringen noch einmal des Sängers Thema mit höchster Kraft im G-lydischen Modus und die obligate Folge D7 - T (Beispiel 36, T. 138 - Schluß).
In Granada auf der Höhe gegenüber der altehrwürdigen maurischen Alhambra liegt das berühmte Zigeunerviertel „EL ALBAÏCÍN” dort, wo die Wohnstäten in die Felsen gehauen sind. Albéniz hat sich hier,
nach „JEREZ” am stärksten und überzeugendsten vom andalusisch-zigeunerischen Cante jondo inspirieren lassen. Hier trifft besonders zu, was Manuel de
Falla in der „Revue Musical”, Paris 1925 gesagt hat: „Die grundlegenden Elemente der Musik, die Quellen der Inspiration sind Völker und Volksgruppen. Ich bin gegen
eine Musik, die auf echten folkloristischen Dokumenten beruht. Ich glaube im Gegenteil, daß man bei den natürlich gegebenen Urquellen, beim Wesen des Klanges und des Rhythmus, beginnen sollte, und nicht bei
ihrer äußerlichen Erscheinung. Wenn wir die andalusische Musik als Beispiel nehmen, bemerken wir, daß es
nötig ist, zu den tiefsten Tiefen vorzudringen, um nicht zu karikieren.” Granada war die letzte arabische
Bastion; sie fiel 1492, und Albéniz, der sich selbst gern einen Mauren nannte, hat nach Claude Debussy’s Urteil im „ALBAÏCÍN” sogar sein Bestes gegeben.
Ein einsamer Gitarrespieler zupft auf der Grundlage eines feststehenden rhythmischen Modelles eine quasi
improvisierte Tonfolge - so läßt uns jedenfalls der Komponist glauben. In Wirklichkeit ist bereits dieser
melancholische Anfang bis ins Detail genau durchorganisiert. Womit Albéniz sich in Übereinstimmung mit
der im oben angeführten Zitat geäußerten Ansicht de Falla ’s befindet. Viertatktige Periodik und ein
dorisches Tetrachord b-c-des’-es’. Dieses Tetrachord erweitert sich erst und wird harmonisiert ab T. 16 (Beispiel 37, T. 1-3). Nach 8 x 4 Takten erscheint erstmals deutlich eineBulería (erste Gruppe derCantes derivados) (Beispiel 38, T. 33-35). Es ist Ansichtssache, ob man die ersten 32 Takte alsEntrada auffaßt und die Bulería
erst T. 33 beginnenläßt, oder den Bulería-Rhythmus der angenommenen Entrada sogleich zum eigentlichen Tanz rechnet. Dessen Rhythmus kann man schön syllabieren, was auch der Komponist der
Überlieferung nach getan haben soll. Die Tänze der Soleares- und Seguiriyas-Gruppe werden häufig nach Art magischer Formeln auf sinnlosen Silben skandiert, etwa auf
ti-ri oder le-re. Der vorliegende Bulería-Rhythmus würde dann (Beginn) von einer Cantaora etwa folgendermaßen wiedergegeben werden Tiriti-tiri Tiritiriti oder Trajili-tiri Tiritiriti. T. 41 (Beispiel 39) wird mit Tarata-tran skandiert, besonders wenn
die Bulería in Jerez ausgeführt wird.
Eine reine Tanz-Interpretation liefert hingegen die Flamenca Sharon Sultan (die Musik beginnt bei 1:40):
Der erste Teil des Stückes kulminiert im Geklappere der Schuhabsätze, wie es für Flamenco-Sätze typisch ist, und leitet mit einem
„maurischen” Tremolo („enharmonisches” Intervall e-b, Beispiel 40, T. 66-67), wie wir es bereits in „ALMERÍA” kenngelernt haben, zur Copla über.
In der Copla wird einer jener Cante-Jondo-Gesänge angestimmt, die so recht die orientalische Pracht und
Sehnsucht der andalusisch-zigeunerischen Musik kennzeichnen. Der Ambitus der phryghischen Melodie vergrößert sich bei fünfmaliger Wiederholung immer mehr bis zur None. Jede Wiederholung wird intermittiert
vom fernen Klang der Kastagnetten, welche den Rhythmus einer Seguidilla gitana (Seguiriya) andeuten(Beispiel 41, T. 70-74). Einer deutlichen Darstellung seitens des Interpreten bedürfen hier auch die kleinen
Artikulationsbögelchen, welche Noten paarig zusamenfassen; sie deuten das jondotypische Portamento an.
Der Seguidilla-Rhythmus gewinnt zuletzt die Oberhand und leitet fff über zur Bulería, die jetzt noch intensiver als zu Beginn mit Händeklatschen (Beispiel 42, T. 110-111), „ay”- und „olé”-Rufen (Beispiel 43,
T. 122-123)und dem Gestampfe der Schuhabsätze ausgeführt wird.
Auf anderen Tonstufen erscheint wieder der Cante Jondo, welcher ab T. 165, ähnlich wie vorher die Bulería
, emphatisch gesteigert wird mit allerlei harmonischen, klanglich-instrumentalen und rhythmische Raffinessen, von denen die beiden folgenden - druckfehlerbereinigten - Beipiele einen Eindruck vermitteln (Beispiel 44, T.
173-175; Besipiel 45, T. 219-220).
Die richtige Anwendung des Rubato führt gerade in den monodischen Partien zu ungeahnten Wirkungen.
Die Takte 245-252 sind jedoch durchaus gleichmäßig, fast nicht retardierend auszuführen. T. 248 ist das
punktierte F solange als möglich zu halten und die nachfolgende 32tel-Triole dafür recht geschwind zu spielen (vgl. „ALMERÍA”)
Die Copla (Beispiel 46, T. 273-274)bringt verklärend, nach stark verkürzter Wiederholung der Bulería
noch einmal den Cante Jondo, welcher „sobrement” aushauchen will, aber doch noch von der „und-dennoch”
-Stimmung des aufbrausenden Seguidilla-Rhythmus überrannt wird. Der Schluß faßt noch einmal auf engestem Raum bedeutende harmonische und rhythmische Elemente des Flamenco zusammen (Beispiel 47,
T. 309-Schluß).
Claude Debussy schwärmte über den „ALBAÏCÍN”: „Es gibt wenige Kompositionen, die an den ALBAÏCÍN heranreichen. In ihm finden wir den Duft der Blütennächte Spaniens wieder. Wie der Ton einer gedämpften
Gitarre, die der Nacht ihr Leid klagt und dann plötzlich nervös erwacht. Volksliedthemen werden nicht
wirklich wiederholt, aber es ist, als ob jemand ihren Geist eingesogen und absorbiert hätte, so daß sie in seine eigene Musik übergingen, ohne daß es möglich wäre, einen Trennungsstrich zu ziehen. Nur wenige
musikalische Werke sind von vergleichbarem Wert. In EL ALBAÏCÍN etwa erkennen wir die Atmosphäre
spanischer Abende mit ihrem Duft von Nelken und Brandy... Es ist, als seufzten die gedämpften Klänge einer Gitarre durch die Nacht. Dies ist das Werk eines Mannes, der von der Quelle populärer Melodien
getrunken hat und es versteht, sie in seine Musik einfließen zu lassen, ohne dass uns bewusst wäre, wo genau sie beginnen. Er war der erste, der es verstand, etwas von der reichen Melancholie und dem
spezifischen Humor seines Heimatlandes einzufangen.”
Und Paul Dukas wußte zu sagen: „Albéniz ist ein Dichter, bewegt und erschüttert durch die Natur, ein
Impressionist, der in überlieferten Formen schreibt, die er nicht zu erneuern versucht, sondern in die er ein
Herz ergießt; ein landschaftsmaler mit einer farbenreichen Palette.” Und er fügt kritisch und nicht ohne
geheimen Neid hinzu: „Albéniz geht mit seinen Farben so leichtsinnig um wie mit seinem Geld. Wenn er sieht,
daß eine Fünf-Sous-Marke die Postgebühr für einen Brief nicht ganz deckt, so klebt er sofort noch zehn Sous drauf !”
Ein Polo-Tanzrhythmus tauchte bereits in „EL PUERTO” auf. Hier jedoch erscheint der Polo gitano in seiner
reinen Form während des ganzen Stückes. Es erregt Bewunderung, wie es Albéniz gelingt, fast die ganzen
390 Takte hindurch den immer gleichen Rhythmus - hin und wieder synkopisch variiert - durchzuhalten, ohne
Langeweile aufkommen zu lassen. Freilich muß der Interpret das Seinige dazutun, um mit der gespanntesten rhythmische Verve und den charmantesten Anschlagskünsten eine Art besessener Elelganz hervorzuzaubern
. Leider spielen selbst Eingeweihte diesen „POLO” nur ganz selten. Das mag nicht zuletzt an der teilweise nur
schwer nachzuvollziehenden Agogik liegen, z. B. nach dem ersten Gitarren-Zwischenspiel die Stelle T. 93 -
110. Die Metronomzahl 66 für das punktierte Viertel ist für einen Polo eindeutig zu schnell. Polo-Gesänge
gehen (z.B. Jesus Heredia) auf Achtel ca. 112-120, können aber auf dem Klavier etwas schneller gespielt werden.
In direkter Ableitung der Cantes primitivos stehend, vor allem der Soleares, sind auch für den Polo
typisch die breiten und monotonen Modulationen und Einwürfe von „Ay”-Rufen, die zwar ursprünglich nicht
zum Cante primitivo gehörten, jedoch - ohne erkennbare Entwicklung - kurz nach seinem ersten historischen Auftreten erschienen sind. Das Wissen um den Charaker dés Polo
schlechthin und um seine Varianten ist überhaupt verloren gegangen, weil in der Geschichte seiner Entwicklung nie einer aufgeschrieben worden ist.
Nur noch legendäre Namen sind übrig geblieben, wie z.B. der „Polo de Tobalo”. Aber wie dieser geklungen
hat, wird man leider nie mehr erfahren. Gesungen wird der Polo auf folgende vier Verse zu je 8 Silben nach Art der cuarteta romanceada
“Carmona tiene una fuente con catorce o quince caños con un letrero que dice: ¡Viva el polo sevillano!”
Wobei der letzte Vers auch lauten kann: “¡Viva el polo de Tobalo!” Unterbrochen wird der fortlaufende Text
durch flamencotypische Melismen, und Zeilen werden teilwiederholt. Darin steckt viel Improvisatorisches.
Wie komponiert nun Albéniz seinen Polo?
Zunächst beginnt die Gitarre eine Solida im phrygischen Modus und im 3/8-Takt auf dem Grundton F (Beispiel 48, T. 1-4). Das dritte Achtel im ersten und dritten Takt symbolisiert jeweils einen Schlag mit der
Handfläche auf das Corpus der Gitarre. Ab T. 9 wird auch f-Moll eingeführt, wie überhaupt die Harmonik des ganzen Stückes den Reiz des Changierens zwischen modaler und Moll-Harmonik auskostet. Die
Verwendung des übermäßigen „orientalischen” Intervalles, des „enharmonischen” Intervalles und des „Racimo de uvas” (Beispiel 49, T. 13-15)sind weitere Charakteristica. Nach sechzehnEinleitungstakten
beginnt die erste Gesangsstrophe des Tanzliedes, ebenfalls auf der harmonischen Basis der Solida (Beispiel 50, T. 17-20). Sie findet ihr Ende in einer Art Tremolo ähnlich dem Bulería
-Tremolo im „ALBAÏCÍN” mit anschließendem leisen Kastagnettengeklapper (Beispiel 51, T. 69-72), welches in einen breiten,
schmerzlichen „Ay”-Ruf mündet (Beispiel 52, T. 81-84). Zu Beginn der zweiten Strophe taucht wieder die
solida auf, harmonisch leicht, aber nicht grundlegend verändert und auf acht Takte verkürzt. Dann erklingt wieder das motiv der ersten Strophe (Beispiel 53, T. 93-95). Hier ist besonders die Anwendungunaufgelöster Vorhalte interessant. Sie sind in der ganzen Iberia-Suite ein wichtiges stilbildendens Mittel. Der
Vorhalte entkleidet würde Besipiel 53 so lauten:(Beispiel 53a).
Es ist deshalb nicht empfehlenswert, etwa den zweiten Akkord in Beispiel 53 als „verkürzten großen
Nonenakkord auf der Domainanten der Durparallele” oder ähnlich zu interpretieren. Und gerade auch dort,
wo man in Racimo-de-uvas-Akkorden nicht einmal mehr Vorhaltsbildungen unterstellen und zur Analyse den Vorhalt auch nicht mehr abziehen kann, sondern sich der Klang emanzipiert, kommt man mit der
Analysemethode Riemanns nicht weit. Die Kenntnis theoretischer Akkordungetüme war Albéniz’ Sache entschieden nicht - er hat sie nur komponiert.
Hingegen führt T.108/110 eine vergessene Verzierung der Barockzeit wieder in die Klaviermusik ein: eine
doppelte Acciaccatura; hier die in Noten ausgeschriebene Form mit gleichzeitigem kurzen Anschlag der harmoniefremden Untersekunde zur Hauptnote.
Nach einem Abschnitt mit der Bezeichnung „un peu indécis” gewinnt T. 111 überraschend eine weich schmelzende melodische Linie im Tenor Kontur (Beispiel 54, T. 111-113). Diese Melodie wird im Verlauf
der zweiten Strophe mit dem Polo-Rhythmus kontrapunktisch verstrickt; man möchte fast von einer Copla
-Funktion der zweiten Strophe sprechen. Nach starker Steigerung „toujours fort et viril” erklingen wieder das
bereits bekannte Tremolo und Kastagnettengeklapper zum Schluß der Strophe, welche wiederum in einen
schmerzlichen „Ay”-Ruf mündet. Eine dritte Strophe hebt an, bringt das Copla-Thema mit gesteigerter Emphase (Beispiel 55, T. 317-319) und entschwindet pppp in einer Coda, die im Flageolett der Gitarre
noch einmal den polo-Rhythmus gleichsam abstrahiert zitiert (Beispiel 56, T. 368-371). Virtuosdahinhuschendes Kastagnettentremolo und der obligate Quintfall bilden den Schluß des Klavierstückes,
dessen Gesamtcharakter am besten eine darin vorkommende Vortragsbezeichnung beschreibt: „gracieux et piquant”.
An dieser Stelle sei einmal gegen die Simplifizierung schwieriger Sprünge oder Kreuzungen, wie sie die
katalanische Schule oder Pianisten wie etwa Arthur Rubinstein (nach dessen eigenem Bekenntnis) verwenden, Stellung genommen. Statt vieler Worte stelle ich als Beispiel den Beginn des Polos in
vereinfachter Schreibweise her, die das Verfahren der manuellen Vereinfachung ad absurdum führt. Es
fehlt im folgenden Beispiel nichts - doch die Qualität ist eine ganz andere als die des Originaltextes, und das
fantastisch-artistische Element verschwindet völlig. Wem der Mut zum Original und zur “Pureza” fehlt, sollte von der Iberia-Suite lieber die Finger lassen!
IX. LAVAPIÉS
a) Artist und Abenteurer
Seinen ersten öffentlichen Auftritt, bei dem er auch improvisierte, hatte Don Isaac Manuel Francisco
Albéniz im Alter von vier Jahren. Zwei Jahre später, 1866, absolvierte er eine Aufnahmeprüfung für das Fach Klavier am Pariser Conservatoire bei Antoine-Francois Marmontel (1816-1898). Am Ende der Prüfung
verschaffte er seinem angespannten Gemüt dadurch Befreiung, dass er seinen mitgebrachten Spielball durch das geschlossene Fenster warf. Nach dieser „Talentprobe” musste er wegen erwiesener Unreife nach
Spanien zurückkehren. Dort konzertierte er unter der Kuratel seines eifrigen Vaters drei Jahre lang ununterbrochen als Wunderkind. Er war während der Auftritte meist als Musketier mit umgehängtem Degen
gekleidet und erregte Aufsehen durch seine Fähigkeit, auf den mit einem Tuch verdeckten Tasten zu spielen
- eine Fähigkeit, die ein Jahrhundert zuvor auch von Wolfgang Amadeus Mozart verlangt worden war. Aber der junge Isaac übertrumpfte den Vorgänger, indem er mit dem Rücken zur Klaviatur stand und mit
entgegengesetzter Handstellung spielte. Nach drei Jahren hatte der Knabe genug von der väterlichen Tyrannei und lief im Musketierkostüm von Zuhause weg. Er versteckte sich als blinder Passagier in einem
Zug, machte dort mit dem Bürgermeister von Escorial Bekanntschaft, der ihn zunächst im dortigen Casino spielen ließ, um ihn anschließend nach Madrid zu seinen Eltern zurück zu schicken. Der kleine Isaac aber
stieg in der nächsten Station um und nahm den Zug in die entgegengesetzte Richtung. Er konzertierte in mehreren Städten und wurde, als er schon einiges Geld beisammen hatte, von Zugräubern überfallen und
ausgeraubt. Die nächste Zeit konzertierte er weiter; in Cádiz wurde Albéniz festgenommen und vom Gouverneur nach Hause geschickt. Der junge Abenteurer entkam jedoch auf ein Schiff, das zufällig nach
Puerto Rico. Von dort schiffte er sich nach Buenos Aires ein und verschaffte sich eine Konzerttournee
durch den südamerikanischen Kontinent. Ein Jahr später wurde Albéniz auf Veranlassung seines Vaters auf Kuba verhaftet; dort war nämlich inzwischen sein Vater Finanzbeamter geworden. Der ließ ihn aber nach
einem ausführlichen Gespräch nun doch endlich ziehen. Zunächst ging es Albéniz aber ziemlich schlecht. In
New York musste er sich als Hafenarbeiter über Wasser halten; in den Hafenkneipen erspielte er sich ein Zubrot. Seine alten Varieté-Tricks, wie das erwähnte Rückwärtsspielen machten ihn bekannt in den Sälen
und Saloons des amerikanischen Westens. Er kam 1874 bis nach San Francisco. Dann entschloss er sich zu ernsthaften Studien und kehrte deshalb zunächst nach Spanien zurück, um dann mit Unterstützung von
Gönnern noch im selben Jahr zunächst in Belgien, dann bei Carl Reinecke in Leipzig zu studieren. Um 1880 arbeitete dann noch mit Franz Liszt in Rom und Weimar zusammen.
Isaac Albéniz im Alter von 13 Jahren
Isaac Albéniz, Improvisation Nr. 1, 1903
Isaac Albéniz, Improvisation Nr. 2, 1903
Vielleicht wird vor diesem biographischen Hintergrund der manchmal wirklich artistische Anspruch weiter
Strecken einiger Stücke der Iberia-Suite verständlich. Albéniz studierte viel später noch an der Schola
Cantorum. Zur bloßen Artistik kamen also noch kontrapunktischer Ehrgeiz und - eben besonders in diesem letzten Werk - ein komplizierter musikalischer Inhalt hinzu. So bietet gerade „LAVAPIÉS” (neben „JEREZ” und „ERITAÑA”) größte Ansprüche an virtuosen Drahtseilakten, die in keiner Klaviermethodik zu finden sind.
Sucht man Parallelen in der Klavierliteratur, findet man sie am ehesten in Beethovens Fuge aus op. 106, in
Liszt ’s „Fantaisie de bravour sur la clochette de Paganini” (beides im übrigen sogenannte „undankbare”
Stücke) und in einigen Etüden von Alkan, Godowsky oder Sorabji. Doch allen Schwierigkeiten, allen Pianistenhöllen zum Trotz: gerade bei Albéniz gilt in besonderem Maße das schöne Postulat: graziös,
unaufdringlich und weltmännisch-elegant diese originelle Musik zu - „spielen”! Hier braucht es wahre Edelmänner des Klaviers, und es gibt auf der ganzen Welt wohl kaum mehr als eine Hand voll...
b) Lavapiés
Lavapiés ist ein altes Vorstadtviertel von Madrid mit lebhaftem Nachtleben, dessen Tanzlokale Albéniz mit
lateinamerikanischen Rhythmen und reibenden Dissonanzen darstellt. Hier war noch vor einigen Jahrzehnten
das Revier der Chulos (Vorstadtkavaliere) und ihrer Majas (Mädchen). Eine jener Majas hat dem Maler Goya bekleidet und nackt Modell gelegen. Um die Jahrhundertwende war die Habanera, ein Tanz aus Kuba,
den man dank Bizets „Carmen” auch in Deutschland kennt, ein beliebter Mittler zwischen den Geschlechtern
. Und wirklich scheint durch das ganze Stück hindurch der Habañera-Rhythmus ostinat hindurch. Der Habañera-Rhythmus wird triolisch variiert (Beispiel 57, T. 5-7). Die ersten zwanzig Takte exponieren
melodisches Material auf der Dominanten der Haupttonart Des-Dur in einer extravagnaten, geradezu pathologisch heiteren Weise. Dieser Eindruck wird hervorgerufen durch das auffordernde Stampfen der
hohen Stiefelabsätze der Chulos im Rhythmus der linken Hand auf D7-Basis und dem Vorstadtlärm und dem
Gekichere der Majas in der rechten - mit Hilfe von „Reizklängen” wie verminderte Oktav und chromatischen Nebentönen in Doppel- und Tripelgriffen erzeugt Beispiel 58, T. 13-15). Neues melodisches Material wird
T. 21 eingeführt und bestreitet das musikalische Geschehen bis zum Beginn der Copla (Beispiel 59, T. 21-22). Vor der Copla sind acht bemerkenswerte Takte eingefügt, welche den Habanera-Rhythmus gleichsam
abstrahiert vorführen (Beipiel 60, T. 70-77). Die Copla bringt zwei neue Melodien auf der Dominant.-Harmonie, einmal stark rhythmisch ausgerichtet (Beispiel 61, T. 78-79), dasander Mal mehr lyrisch (Beispiel 62, T. 110-111), in beiden Fällen niedertaktig beginnend, im Gegensatz zumauftaktigen Material
des A-Teiles. den lyrischen Abschnitt des zweiten teiles möchte man als Copla innerhalb der Copla ansprechen, denn T. 126 beginnt wieder der stampfende Rhythmus aus Beispiel 61, der auf der
Tonikaparallele des Hauptteiles variiert, ab T. 142 mit Anklängen an das erste Motiv desselben. Formal
interessant geschieht die Reprise dieses ersten Abschnittes, nämlich von rückwärts, d.h. auf der verdurten
Tonikaparallele und „p gracieux” variiert - vor der wörtlichen Wiederholung des ersten Themas gebracht. Dazwischen (T. 171) führt eine modulatorische Ausweichung bis nach Asas-Dur. Nach dieser
Ineinanderschachtelung zweier dreiteiliger Liedformen folgt nach einem seitenlangen Orgelpunkt auf As eine Reprise des rhythmischen Copla-Teiles (Beipiel 63, T. 202-203) und eine nur mehr viertaktige Andeutung
des lyrischen Gedankens, beide diesmal in der Tonika. Die vierzigtaktige Coda bringt nach nochmaligen
Anklängen an die ersten Themen beider Hauptteile (Vortragsbezeichnung „brutal!”) den abstrahierten Habanera-Rhythmus in einem trockenen und leise davonklappernden Ausschnitt aus der Ganztonleiter (Beispiel 64, T. 245-246). Der üblicheQuintfall beschließt lautstark die Impression einer Tanzszene im
alten Vorstadtviertel von Madrid, für deren Darstellung der Interpret Sinn sowohl für schelmisch-ordinären
(„narquois, canaille”) als auch für graziösen Ausdruck („avec grâce”) mitbringen muß. Der vielzitierte spanische Naturalismus findet hier seinen eigensten Ausdruck. Der Gegenpol zu „LAVAPIÉS” ist wohl in „LOS REQUIEBROS” von Enrique Granados zu suchen, wo Galanterie und Noblesse einer früheren Zeit und einer
anderen Geselschaftsschicht dargestellt sind.
Die mit einem Tanzbaß im phrygischen Modus auf F und innerhalb des für die Tanzform typischen absteigenden Tetrachordes hebt die Malagueña an (Beispiel 65, T. 1-4). Ostinatoartig repetiert immer
wieder derselbe Rhythmus; ebenso die Figur des Anfangs. Beide bestreiten zumgroßen Teil die rhythmische Grundlage des Hauptabschnittes; darüber wird eine flamencotypische Fandango-Melodie
gleichsam improvisiert (Beispiel 66, T. 30-32; Beispiel 67, T. 46-48). Wie ihre Verwandte, dieRondeña, ist die
Malagueña eine Werbetanz. Dies wird besonders ohrenfällig im Charakter der Copla, welche nach einem sehr hübschen Racimo de uvas in pentatonischer Sixt-ajoutée-Mischung einsetzt (Beispiel 68, T. 57-60). Ein hoher, dasFlamenco-Falsett imitierender Cante jondo in Tenorlage wird von reizvollen, süßen Vorhalten kontrapunktiert (das Rubato nur in der linken Hand! siehe Beispiel 68). Sinnliche Modulationen mit
hilfe des oben erwähnten Orientalismo und seinerEnharmonik leiten von der Tonikaparallele des-Dur über nach Ges-Dur - des-bzw.cis-Moll (T. 66) -
H-Dur (T. 70) - E-Dur - (T. 73) - A-Dur (T.78) - e-Moll (T. 82) - G-Dur(T.90).Dabei werden ständig das Motiv der Copla und seine Begleitungrepetiert. Etwas besonderes
geschieht dann , wenn G-Dur erreicht ist: der bisherigeQuintumfang der Gesangslinie wird auf die Sexte
ausgedehnt, die Melodie erblüht über das bisherige, etwas kurzatmige Werbemotiv des Sängers zur achttaktigen „con-anima”-Antwortder Cantaora in höchster Sopranlage(Beispiel 69, T. 90-92). Die
Anklänge an Mili Balakirew‘s„ISLAMEY”oder Nikolaj Rimsky-Korssakoff‘s „SCHEHEREZADE” sind
unüberhörbar. Das orientalische Märchen nimmt seine Fortsetzung in einer ausführlichen harmonisch und
melodisch variierten Reprise des A-Teiles. Sie wirkt gleichsam improvisiert und steigert sich bis dynamisch
zum ffff. In der Copla erscheint zunächst das entsprechende Motiv in der verdurten Tonikaprallele, ähnlich wie in „LAVAPIÉS”. Bald aber ergibt sich ein formal interessantes Wechselspiel zwischen der Motivik und
Rhythmik des A-und B-Teiles. Die süßen Vorhalte der Copla erscheinen wie eingefangen vom ostinaten
Tanzbaß des Hauptteiles frenetisch akzentuiert („sf”; Beispiel 70), als ob ein Dialog zwischen dem Tänzer
und der von ihm umworbenen Sängerin stattfände. Eine Episode von höchstem kontrapunktischem Reiz (Besipiel 70, T. 206-208). Am Ende siegt der Rhythmus des Tänzers(Beispiel 71, T.232-234), seine
beiden Themen aus dem ersten Teil werden kontrapunktisch verflochten und entschwinden schließlich tremolierend ppp und enden mit dem obligaten Quintfall. Die dynamische Ähnlichkeit mit dem Schluß von „LAVAPIÉS” ist ebenso auffallend wie die entsprechende Schematisierung des Tanzrhythmus in den letzten sechzehn Takten.
Takte 1-66 Strophe I Takte 1-9 Vers 1 Takte 1-3 Vers 2 Takte 3-5
Vers 3 Takte 5-7 Vers 4 Takte 7-9
Strophe II Takte 9-17
Strophe III Takte 17-27
Strophe IV Takte 28-48
veränderte Strophe III Takte 52-56
Takte 67-154 Copla
Takte 155-182 Reprise: starke Veränderung
Takte 183-201 Reprise: starke Verkürzung
Takte 206-230 Coda
Die breit angelegte Impression aus dem geographischen Raum um das andalusische Weinzentrum Jerez de
la Frontera kann man ohne weiteres als das bedeutendste Einzelstück, das Albéniz je komponierte, ansprechen. Nirgend sonst ist ihm eine so vollkommene Übertragung einer Soleá und des
Cante jondo auf das Klavier gelungen. Unendlich scheinen die seelisch-kontrapunktischen Verästelungen des kunstvollen polyphonen Geflechts.
Tief und schwer beginnt die Musik, im Autograph mit “bolero aburrio” (langweiliger, also langsamer Bolero) genauer bestimmt, mit einer lang ausgehaltenen Oktave E1-E. Um die Bedeutung dieses Tones zu erläutern,
zitiere ich aus der „Spanischen Musikgeschichte” von José Subirá folgende Sätze: „Higinio Anglés ...
bemerkt, daß der Ton E ... dem Schmerz, der Ehe, der Pflicht, dem Stier, der Kuh, dem Flamingo der Fruchtbarkeit, den regenriten und dem melismatischen Gesang symbolisch entspreche. Das indische
Gegenstück zum andalusischen Canto flamenco - auchcante jondo genannt -, der typisch auf E steht, ist
heute noch ein Gesang, der um Regen bittet. So ließe sich verhältnismäßig einfach der Ausdruck Flamenco
aus der Symbolverbindung mit dem Flamingo erklären. Die Zusammenarbeit von Ethnographie, Archäologie, Volkskunde und Musikwissenschaft scheint berufen, unerwartete Perspektiven zu eröffnen.”
Dieses am Anfang stehende einsame E symbolisiert den langgezogenen Klageruf „Ay”, welcher am Anfang jeder echten Soleá steht.
„Soleá” heißt auf Andalusisch „Einsamkeit”. Dieses E bildet das Fundament, auf dem die sich wellenartig ondlierende Tanzmelodie das Tetrachord a-g-f-e ab- und aufsteigen entfaltet (Beispiel, T. 1-3). Die erste Strophe (T. 1-9) enthält vier achtsilbige Verse, von denen der letzte auf zehn
gedehnt ist. Die einzelnen Silben sind in Beispiel 72 durch Ziffern markiert (vgl. „EVOCACIÓN”). Eine zweite
Strophe mit dem gleichen Bauprinzip folgt, aber nun in weitgespannter melodiös-weicher Akkordik, welche aufgrund ihrer Imitation eines Quintorganums altertümlich wirkt (Beispiel 73, T. 9-11). Sie steigert sich nach
der ersten Hälfte des vierten Verses zum typischen stampfenden Flamenco-Rhythmus (Beispiel 74, T. 16-17). Das Gis (T. 17) ist hier nicht als Leitton nach A. sondern als das bereits oben besprochene „enharmonisch
-maurische” Intervall zu verstehen, das in der abnedländischen temperierten Skala nicht existiert.
Nach dieser stark rhythmischen Episode folgt ein Abschnitt, den amn als vierte Strophe bezeichnen kann (Beispiel 75, T. 28-29). Dieser Einteilung nach wären also die Takte 1-9 die erste Strophe mit vier
Versen, die Takte 9-17 die zweite und die Takte 17-27 die dritte Strophe. Die vierte Strophe nun bringt den
Rhythmus, welcher über der vierten Silbe der entsprechenden Verse der Strophen 1-3 liegt gleichmäßig
repetierend über 21 Takte hinweg, ohne Melodie, jedoch chromatisch auf- und absteigend in Sixt-ajoutée- und
Septakkorden. Eine abstrakte Klangmalerei, wie sie öfters in der Iberia-Suite vorkommt. Der Abschnitt läßt
sich sinnvoll gliedern in 8+5+8 Takte. Als ich auf einer Reise durch Andalusien diesen Abschnitt, der von den
wenigen Interpreten dieses Stückes für einen impressionistischen, ein wenig faden Klangnebel gehalten wird,
einem Gitarre zupfenden Gitano vorspielte, fing dieser nach kurzer Zeit an, mit den Fingern zu schnippen und
Silben zu skandieren - und zwar im Rhythmus des Flamenco ab Takt 17. Auf mein Fragen erklärte er mir, dies sei eine der typischen Flamenco-Stellen, wo man sich den Hauptrhythmus vorstellen müsse. Der
„abstrakte Klangnebel” gewinnt vor dem Hintergrund dieser erklärung eine völlig neue, „hintergründige”
Dimension, nur nachvollziehbar für den kundigen Interpreten und vorbereiteten Hörer..
Eine kurze Überleitung von drei Takten („brusquement”) bereitet den Wiedereintritt des Flamenco
-Rhythmus vor. Derselbe erscheint nun in einem pianistischen Gewand, gegen das die berüchtigt schwierige a-moll-Etüde aus Chopin ‘s Opus 10 (Beispiel 76, T. 1) brav und bieder erscheint (Beispiel 76a, T. 53+55).
Danach vollzieht sich eine Modulation in eine Modalität, welche zwischen C-Dur und dem ersten absteigenden phrygischen Tetrachord schwankt , zuzüglich des immer wieder arabeskenhaft eingefügten
„maurischen” Intervalles h-as, welches auf dem Tasteninstrument leider nicht machbar ist. In dieser modalen
Mixtur erscheint ab Takt 67 das Thema der Copla: der vielleicht längste und kunstvollste Cante jondo, der je Eingang in die Kunstmusik gefunden hat (Beispiel 77, T. 73-74). Manuel de Falla sagte einmal: „Rhythmus,
Tonalität und melodische Intervalle, welche die Modulationen und Kadenzen bestimmen, sind grundlegende
Bestandteile (sc. dieser Musik). Das Volk benutzt sie zur unendlichen Variierung der reinen melodischen
Linien seiner Gesänge. Die rhythmische und melodische Begleitung ist so wichtig wie der Gesang selbst.”
Dies genau geschieht in der Copla! Es gibt nämlich in ihr keine eigentliche Begleitung. Der interpret sollte
keine der rhythmisch-melodischen Arabesken, welche den Cante jondo etwa in Beispiel 77 förmlich umschlingen, als bloßes Beiwerk oder Staffage abtun.
Im Grunde ist es schade, daß Albéniz nach seiner französisch-formalen Schola-Cantorum-Erfahrung
versucht hat, die so freie Cante-jondo-Linie in ein Taktgerüst zu zwängen, das zwischen 1/4-, 2/4- und 3/4
-Takt schwankt. Man muß die Taktstriche übersehen und im Rubato des Flamenco über sie hinwegspielen.
Ich gebe aber gerne zu, daß man kann auch die gegenteilige Auffassung vertreten kann: die Taktstriche seien
zur Verdeutlichung der unregelmäßigen metrischen Schwerpunkte der Melodie geradezu notwendig. Aus der magischen Flamenco-Formel „tanto es tan libre” hat erst Jahre nach Albéniz Federigo Mompou die
Konsequenz gezogen und taktstrichlose spanische Musik komponiert.
Arabesken aus übermäßigen und verminderten Intervallen verzieren den im Grunde einfachen Gesang (Beispiel 78, T. 115-117). Danach intensiviert sich der Ausdruck (Beispiel 79, T. 122-123). er mündet
nach und nach in eine ausgedehnte Steigerung(Beispiel 80, T. 130-132), welche ihre angestaute Energie in einer gewaltigen, schmerzdurchtränkten Eruption entlädt (Beispiel 81, T. 149-150). Damit ist das Ziel desCante jondo erreicht, die geballte rhythmische Energie des Flamenco aus dem A-Teil, durch Vorhalte und
Sforzato-Schläge noch verschärft, löst denselben ab (Beispiel 82, T. 155). Eine stark verkürzte und
veränderte Reprise des ersten Hauptabschnitttes (A) hängt noch einmal das Cante-jondo-Thema gekürzt und
apotheosiert an. Vier Takte einer Episode aus zu Racimo-de-Uvas geballten Vorhalten leiten pppp in der höchsten Sopranlage zur Coda über, welche nicht enden wollend auf dem Orgelpunkt E noch einmal die
klanglichen Facetten des Flamenco erglühen läßt Beispiel 83, T. 212-213). Pflichtgemäß, doch geradezu
herbeigesehnt am Schluß der Quintfall, dem Charakter der Soleá angemessen pppp verlöschend.
Isaac Albéniz beendet die Iberia-Suite mit einem Stück, welches durchgehend, ohne Unterbrechuing durch
eine lyrische Copla, den feurigen und heiteren Rhythmus der Volkstanz-Seguidilla in einem letzten Ausbruch
ungezähmter musikalischer und pianistischer Kraft bringt. Manche Betrachter meinen, der Komponist hätte
hier des Guten zuviel getan, alle harmonischen, rhythmischen, polyphonen und technischen Kunststücke der vorhergehenden elf Stücke auf engem Raume zusammengepackt. Claude Debussy schätzte zwar „ERITAÑA”, indem er es neben „EL ALBAÏCÍN” für das beste Werk Albeniz’ hielt, äußerte sich aber einmal
allgemeinkritisch: „Albéniz hat hier sein Bestes gegeben, aber so übertrieben, daß er fast seine Musik zum Fenster hinauswarf. „ERITAÑA” ist die Freude der Morgendämmerung, die Freude, ein Wirtshaus mit
frischem Wein zu finden. Eine hin- und herströmende Menschenmenge bricht in Gelächter aus, das vom klingeln der Schellentrommeln untermalt wird. noch nie hat Musik solche vielfarbigen, unterschiedlichen Eindrücke erreicht. Die Augen schließen sich wie erblindet von diesen Bildern mit ihren allzu lebhaften Farben.”
La Venta de Eritaña
Die ersten achtzehn Takte konstituieren den Rhythmus der Seguidilla oder Sevillana: dazwischen (T.5-8)
erklingt die Melodie eines Tanzbasses, welche aus der am Anfang aufsteigenden Es-Dur-Tonleiter abgeleitet ist. Die erste Tanzmelodie im Sopran (Beispiel 84, T. 19-20) wird bald von ener ruhigeren, vergeblich
Cante jondo vortäuschenden Linie abgelöst (Beispiel 85, T. 29). Nach einer eminenten pianistischen Steigerung auf derDominatparallele folgt ab Takt 47 der sangbarere Mitteleteil, zunächst in der Dominante,
später in immer entferntere Tonarten des b-Bereichs modulierend. Wenn der B-Teil auch keine Copla
-Funktion erfüllt, so bringt er doch melismatischeres Melodiegut als der A-Teil, das immerhin aus demselben entwickelt ist (Beispiel 86, T. 55). Es folgt eine komplizierte polyphone Verflechtung(Beispiel 87, 59-60). DieThematik wird ab Takt 71 wörtlich, aber anders harmonisiert zitiert. Eine Steigerung, welche die
Elemente aus Beispiel 84 verwendet, führt aus dem Mittelteil heraus in die auf sechs Takte verkürzte Reprise
des A-Teiles, um der noch reicher als vorher ausgeführten virtuosen Lyrik des Mittelteiles Platz zu machen (Beispiel 88, T. 105). Die Coda ab Takt 133 erinnert wieder dieAnfangsmotivik und macht dann mit den im
Verlaufe des Stückes bereits zweimal gehörten, formal an entscheidender Stelle stehende Überleitungstakten dieser virtuosen Glanznummer ein jubelndes, dionysisch-rauschhaftes Ende.
Anhang I
(Das hier ursprünglich stehende umfangreiche Druckfehlerverzeichnis, das sich auf die von Édition Mutuelle
abhängigen Ausgaben bezog, konnte mit dem Erscheinen der im Vorwort erwähnten Urtextausgaben entfallen.)
Anhang II
Quellenangaben
Luces y Sombras del Flamenco von Caballero Bonald, Editorial Lume, Barcelona. Hieraus besonders das Kapitel „Estilos de Cantes y Bailes”.
On Music and Musicians von Manuel de Falla, translated by D. Urman and J.M. Thomson, London, Boston, Marion Boyars, 1979.
Musikgeschichte von Spanien von José Subirá, deutsch im Pan-Verlag, Zürich. Hieraus besonders die Bedeutung des Tones E im Flamenco.
Isaac Albéniz von Edgar Istel, Musical Quaterly XV, New York 1929.
Albéniz et Granados vonHenri Collet, Éditions des Presses Universitaires, 2e Édition, Paris, 1929
(Nachdruck von „Éditions d’aujourd’hui” 1982).
Lexica: - Riemann’s Musiklexikon, Sachteil, Schott 1967. - Musik in Geschichte und Gegenwart, Bärenreiter/dtv Reprint 1990.
- Grove 1980.